„Die Klimakrise ist ein medizinischer Notfall!“

Die gesundheitlichen Folgen des Klimawandels sind ein Schwerpunktthema des Deutschen Ärztetags in Berlin. Hier wird das Ärzteparlament diskutieren, wie das Gesundheitswesen auf die Folgen der Erderwärmung vorbereitet werden kann. Auf diesem Gebiet engagiert sich seit 2017 auch das Netzwerk Deutsche Allianz Klimawandel und Gesundheit (KLUG). Ein Interview mit dem KLUG-Vorsitzenden Dr. Martin Herrmann über klimafreundliche Kliniken, Hitzeschutzpläne und die Dienstwägen von Chefärzten.

©markus-spiske-unsplash
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Dem Gesundheitswesen kommt beim Thema Klimawandel und -schutz eine zweifache Rolle zu: Zum einen gilt es, die gesundheitlichen Folgen des Klimawandels abzufangen, zum anderen trägt das Gesundheitswesen selbst nicht unerheblich zum CO2-Ausstoß bei. Der jüngste Lancet Countdown Policy Brief für Deutschland zeigt erheblichen Handlungsbedarf. Der jährliche Bericht zu Klima und Gesundheit wird von weltweit 38 führenden akademischen Institutionen und UN-Organisationen erstellt und von der Fachzeitschrift „The Lancet“ herausgegeben. Er konstatiert:

  • Trotz eines wachsenden Bewusstseins der politisch Verantwortlichen für den Ernst der Lage stehen konkrete Maßnahmen zur Vermeidung klimabedingter Gesundheitsrisiken und zur Bekämpfung des Klimawandels aus.
  • Nur wenige Kommunen haben bisher Hitzeaktionspläne umgesetzt.
  • Auch die hohen CO2-Emissionen des Gesundheitssystems wurden in den vergangenen Jahren nur unwesentlich reduziert.

Die Deutsche Allianz Klimawandel und Gesundheit (KLUG) hat ein 58-seitiges Rahmenwerk veröffentlicht, das Gesundheitseinrichtungen auf dem Weg zu Klimagerechtigkeit begleitet. Darin geht es z. B. um Möglichkeiten der Dekarbonisierung bei Immobilien, Mobilität, Lieferketten, Abfall und Lebensmitteln. Dr. med. Martin Herrmann ist Vorsitzender und Sprecher von KLUG. Er begleitet seit vielen Jahren professionell Veränderungsprozesse. Ursprünglich Arzt und Psychotherapeut verlegte er sich auf die Beratung von Unternehmen und NGOs, entwickelte neue Methoden zur Organisationsentwicklung und lehrt heute an internationalen Business Schools und Hochschulen.

Herr Dr. Herrmann, welche Rolle spielt der ethische Imperativ beim Klimaschutz?

Dr. Martin Herrmann: Durch die Überschreitung planetarer Grenzen sind wir als Menschheit dabei, die Bewohnbarkeit unseres Planeten einzuschränken und möglicherweise zu zerstören. Das hat schon heute massive Auswirkungen auf die Gesundheit. Deswegen sprechen wir von einer planetaren Gesundheitskrise. An den Hitzewellen wie z. B. im Westen Kanadas im Juli kann man das sehr gut sehen. Wir haben als Ärzte Verantwortung für die individuelle Gesundheit unserer Patienten. In unserer Berufsordnung steht aber unter Aufgaben auch, dass wir an der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen im Hinblick auf die Gesundheit mitzuwirken haben. Also haben wir während der Klimakrise eine ganz wichtige Rolle als Aufklärer, Mahner und Multiplikatoren.

Welche Strukturen müssen entstehen, damit eine Klinik klimafreundlich handeln und behandeln kann?

Dr. Martin Herrmann: Es geht um zwei Ebenen: neue Herausforderungen in der medizinischen Versorgung durch die Klimakrise und den Weg zur Klimaneutralität in der eigenen Einrichtung. Geschäftsführungen und Ärzte müssen sich dem Thema stellen. Das Wichtigste ist zu verstehen, dass die Klimakrise ein zentrales Thema unserer Zeit ist und auch in Zukunft bleiben wird. Klimaschutz muss auf die Agenda jeder Gesundheitseinrichtung. Das ist bei den meisten Kliniken noch in keiner Weise passiert. Auch auf fachmedizinischer Ebene haben wir einen großen Bildungsbedarf. Erst jetzt ist das Buch Planetary Health erschienen, das die Auswirkungen der Klimakrise in allen klinischen Fächern durchdekliniert. Beispiel Hitzewelle: Wir sind nicht darauf vorbereitet, wie Hitze sich auf Patienten auswirkt, welche Medikamente wir umstellen müssen und welche Risiken sich z. B. in der postoperativen Phase ergeben können. Für ältere Menschen kann das fatal sein. Jede Klinik müsste einen Hitzeschutzplan haben.

Chefärzte könnten auch hier Vorbild sein, möchten aber vielleicht nicht auf ihren PS-starken Dienstwagen verzichten. Was tun?

Dr. Martin Herrmann: Wir tragen mit unserem Lebensstil alle zum Klimawandel bei. Mit einem Chefarzt würde ich dennoch nicht über seinen Dienstwagen reden, das ist sein persönlicher Verantwortungsbereich. Ich würde fragen, was ihn berührt. Ist es das Kind, dessen Allergie sich durch Hitze oder Pollenflug verschlimmert? Was ist ihm bei seinen Patienten aufgefallen? Wer einmal die Zusammenhänge von Klimakrise und Gesundheit erkennt, wird das Thema nicht mehr los. Das ist der Gamechanger. Als Ärzte sind wir es gewohnt, in Krisen zu handeln und über sie zu sprechen. Wenn wir bei einer Sepsis, Krebs oder einem Schlaganfall nicht rechtzeitig reagieren, ist es zu spät. Über diese Narrative können wir darstellen, wo wir in der Klimakrise zurzeit stehen.

Wo sind Investitionen nötig, z. B. in eine autarke Energieversorgung?

Dr. Martin Herrmann: Photovoltaikanlagen auf die Dächer oder ins Gelände zu stellen, rechnet sich auf jeden Fall, weil man 100 Prozent der produzierten Energie nutzen kann. Autarkie kann nicht unbedingt erreicht werden, dennoch muss man diese Möglichkeiten zur Energieeinsparung und -produktion anstoßen. Auch auf Überbehandlungen zu verzichten, spart Ressourcen. Doch es gibt eine weitere Ebene: Die Politik muss Gesetze und Vorschriften so ändern, dass klimaschonendes Verhalten belohnt und nicht bestraft wird. Dafür kann sich eine Klinikleitung über die verschiedenen Verbände oder auch direkt in Gesprächen mit politischen Repräsentanten einsetzen. Kliniken haben nur begrenzte Freiheiten. Wir brauchen also auch die Länder, Kommunen und andere Träger.

Welchen Einfluss können Kliniken auf Lieferketten nehmen?

Dr. Martin Herrmann: Der Gesundheitssektor trägt fünf Prozent zum weltweiten Ausstoß von Treibhausgasen bei – mehr als der Flugverkehr. Die meisten Emissionen verursacht der Einkauf. Ob Hersteller von Medizingeräten, Pharmaka oder Wäschereien – wir müssen mehr Klimaneutralität fordern. Wer nicht mitgeht, hat am Markt keine Chance mehr. Wenn genug Kliniken so handeln, wird sich bei den Zulieferern schnell etwas ändern. Zusätzlich zu nachhaltigen Einkaufskriterien müssen wir auf die Industrieverbände zugehen. Wenn der Druck aus verschiedenen Ecken kommt, wird die Wirtschaft sich bewegen. 

Die Zeit drängt: Was ließe sich schnell und unkompliziert umsetzen?

Dr. Martin Herrmann: Es braucht wenige Wochen, um einen ersten Hitzeschutzplan zu entwickeln. Gleiches gilt für einen Workshop, in dem ein Team aus mehreren Abteilungen einen ersten Projektplan für den Weg zur klimaneutralen Einrichtung entwickelt. Auch eine Auftaktveranstaltung für alle Mitarbeitenden mit wenigen Kurzvorträgen und Diskussion ist schnell organisiert. Die Bedrohung durch den Klimawandel verstehen inzwischen die meisten Menschen, den Zusammenhang zur Gesundheit kann man gerade Gesundheitsberufen gut vermitteln. Entscheidend sind dann die Handlungsebene und unser Wissen, dass wir schnell sein müssen. Die Klimakrise ist ein medizinischer Notfall.

Interview: Ursula Katthöfer (textwiese)

Weitere Informationen:

Rahmenwerk für klimagerechte Gesundheitseinrichtungen

Traidl-Hoffmann C, Schulz C, Herrmann M, Simon B (Hg.): Planetary Health, Klima, Umwelt und Gesundheit im Anthropozän, MWV, Medizinisch Wiss. Ver, 2021, 49,95 Euro