„Das DOG-Hauptthema Digitalisierung wird programmatisch breit abgebildet“ - Ein Interview mit DOG-Präsident Prof. Dr. Hagen Thieme

Die DOG findet dieses Jahr erneut als Online-Kongress statt, wobei das Thema Digitalisierung auch im Fokus der Veranstaltung steht. Ein Interview mit DOG-Präsident Prof. Dr. Hagen Thieme über die Chancen und Risiken der digitalen Ophthalmologie, das internationale Kongress-Programm und seine persönlichen Highlights.

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Die Herausforderung, ihren Präsenz-Kongress in kurzer Zeit in ein Online-Format umwandeln zu müssen, hat die Deutsche Ophthalmologische Gesellschaft im vergangenen Jahr sehr gut gemeistert. Gibt es nach diesen ersten Erfahrungen mit einer digitalen Großveranstaltung Neuerungen in der Konzeption der diesjährigen DOG?

Prof. Dr. Hagen Thieme: Nun, die gibt es ganz sicher. Insbesondere, weil wir früh entschieden hatten, der Online-Version den Vorzug zu geben, um Planungssicherheit zu haben, konnten wir mit vollem Engagement in die Organisation des diesjährigen Kongresses eintreten. Viele Formate haben wir intensiviert und von der Einordnung im Kongressgeschehen optimiert. So ist z. B. das Consilium diagnosticum in die sogenannte prime time gerückt. Auch für die Zeit zwischen den wissenschaftlichen Vorträgen haben wir uns um eine Konzeption bemüht.
Und ich hatte schon früh die Chance, internationale Gäste dazu zu laden, für die unter Covid-Zeiten eine Anreise schier unmöglich gewesen wäre. So Prof. Lloyd Paul Aiello aus Boston, dem Mitentdecker des VEGF für die Ophthalmologie, als auch Prof. Keith Barton aus dem Moorfields Eye Hospital, der über die zukünftigen Wege in der Glaukomchirurgie eine Keynote Lecture halten wird. Insgesamt haben wir die Online-Fortbildungsveranstaltung kennen und schätzen gelernt. Vielen Kolleginnen und Kollegen ist eine Anreise oft aus praktischen Gründen nicht möglich, so dass sie sich von zu Hause aus fortbilden können. Das ist ein unschätzbarer Vorteil, und ich glaube, dass wir diesen Vorteil auch in die Post-Covid-Zeit „hinüberretten“ werden.

"Digitale Augenheilkunde" ist das Hauptthema des kommenden Kongresses. Wie wird sich das im Programm abbilden?

Die Digitalisierung der Augenheilkunde umfasst nicht nur das Sammeln von Daten für die Versorgungsforschung, sondern natürlich auch die Möglichkeiten, in Zukunft mittels künstlicher Intelligenz (KI) Aussagen zu treffen und Therapieoptionen abzuwägen. Bei einer digitalen Bildgebung, die uns – wenn wir etwa an die OCT-A-Technik denken – mit Datenmengen versorgt, die für den Einzelnen unübersichtlich zu werden drohen, benötigen wir Hilfsmittel, die uns in die Lage versetzen, diese Informationen zu bewerten und zu gebrauchen. Das internationale Symposium „Deep Learning in Ophthalmology - where are we heading?“ gibt daher einen Überblick über den Stand klinischer Anwendungen von KI in der Augenheilkunde.
Und ich freue mich, dass Raphael Sznitman, der in Bern eine Professur für KI in der medizinischen Bildgebung innehat, in seiner Keynote zum Thema „Eye to Eye with Al: Opportunities and Pitfalls” die Bedeutung der KI für die Ophthalmologie beleuchten wird – in Form aktueller Ergebnisse, die Anlass zur Hoffnung, aber auch zur Skepsis geben.
Digitalisierung bedeutet aber auch Telemedizin, und welche Möglichkeiten sich auf diesem Feld – nicht nur im Fach Augenheilkunde, sondern beispielsweise auch bei Herzerkrankungen – eröffnen, beleuchtet das Symposium „Tele-Ophthalmology: What the Future could look like“. Das Hauptthema Digitalisierung wird also programmatisch breit abgebildet. 

In welchen Bereichen der Augenheilkunde werden Ihrer Meinung nach Digitalisierung und KI in der nahen Zukunft eine wesentliche Rolle spielen?

Das eine ist die rasant fortschreitende digitale Ophthalmologie inklusive der Anwendung der KI in vielen Bereichen der Augenheilkunde. So sind wissenschaftliche Publikationen mit Unterthemen der Augenheilkunde wie refraktive Chirurgie oder auch Glaukom und Künstliche Intelligenz in den vergangenen zwei Jahren wahrhaft explodiert.
Das andere ist die Weiter- und Fortbildungslandschaft. Die Corona-Pandemie hat uns gezwungen, neue Formate ins Leben zu rufen – wie auch auf dem diesjährigen DOG-Kongress. Die Pandemie hat zudem den Umgang mit digitalen Herausforderungen in der Patientenversorgung beschleunigt, beispielsweise auf dem Gebiet der Telemedizin oder der Videosprechstunden, die eine reale Option geworden sind.
Last but not least: oregis, das digitale Register der DOG, nimmt weiter Formen an. In den vergangenen Monaten wurden mehr und mehr Augenkliniken und -praxen angeschlossen. So sind in oregis bereits viele Tausend Datensätze zu Behandlungsprozeduren und -ergebnissen zusammengekommen und stehen nun der augenärztlichen Versorgungsforschung zur Verfügung. Derzeit bereitet das Projektteam einen weiteren wichtigen Schritt vor, um die Datenübermittlung über Praxisverwaltungssysteme zu vereinfachen: Künftig sollen sich Kliniken und Praxen über eine Registrierungsmaske unkompliziert bei oregis anmelden und Daten automatisch übermitteln können. Meine Hoffnung ist, dass wir weitere digitale Möglichkeiten angstfrei in die Augenheilkunde implementieren können. 

Wo liegen für Sie die Risiken von KI?

Digitalisierung bedeutet auch, dass der Arzt teilweise an den Rand gedrängt wird durch „Dr. Google“, den viele Patienten in ihrer Not zu Rate ziehen. Die Internetwelt ist voll von Apps, die zum Downloaden einladen, die einerseits sinnvoll scheinen, andererseits aber auch einer kritischen Bewertung zugeführt werden sollten. Daran kann man erkennen, dass die Digitalisierung mannigfaltig ist, und es steht uns, glaube ich, in Zukunft an, dass wir neben dem ärztlichen Beruf auch die Digitalisierung lernen müssen, um besser mit ihr umzugehen, Fallstricke zu erkennen und Fake News in der Ophthalmologie zu vermeiden. 

Zurück zum Kongress. Wie interaktiv ist die digitale DOG? Können sich die Teilnehmer mit den Referenten über die Inhalte der Vorträge austauschen?

Wir haben versucht, in vielen Formaten interaktive Elemente einzubringen. So wird im Consilium chirurgicum das Publikum vor der Präsentation des jeweiligen Falles um Chat-Kommentare zu den angebotenen Behandlungsoptionen gebeten. Nach Präsentation der „Lösung“ des Falles bewertet das Panel dann Indikationsstellung, Verlauf und postoperatives Ergebnis unter Einbeziehung eben dieser Chat-Kommentare. Auch beim Consilium diagnosticum bringen ein internationales Panel sowie das Auditorium diagnostischen und therapeutischen Rat ein, ähnliches gilt für die Vorderabschnittsfallkonferenz.
In etlichen internationalen Symposien finden moderierte Rundtischdiskussionen mit den Referenten statt, und auch die bewährten DOG-Updates sind mit lebendigen interaktiven Elementen versehen. Selbstverständlich besteht über die Chat-Funktion die Möglichkeit, mit den Referierenden direkt in Kontakt zu treten und Fragen zu stellen. Diese werden diesmal separat notiert, so dass die Moderatoren der Sitzung technisch begleitet werden und nicht durch ein Multitasking des Moderierens wie auch der Aufarbeitung der Chat-Fragen überlastet werden. 

Sind die Veranstaltungen ausschließlich live zu erleben oder werden sie auch aufgezeichnet, sodass man sie sich ggf. auch noch später anzuschauen kann?

Es wird ein Mix aus voraufgezeichneten Vorträgen und Live-Veranstaltungen sein, so wie schon im Vorjahr. Die Vorträge inklusive Keynote Lectures am Eröffnungstag werden sämtlich vorproduziert und stehen den ganzen Tag zum Abruf bereit – dieses Vorgehen verschafft allen Ophthalmologinnen und Ophthalmologen in Klinik und Praxis eine gewisse Flexibilität und hat sich daher sehr bewährt. Unsere DOG on Demand Plattform archiviert darüber hinaus online alle Beiträge, für die Referenten einer Veröffentlichung zugestimmt haben. Die Kongress-Teilnehmer können sich also Vorträge auch im Nachhinein ansehen und den O-Ton des Sprechers zu den jeweiligen Folien hören.

Wie international ist die DOG 2021?

Die Expert Talks, die von unserem Generalsekretär stark mitgestaltet wurden, bieten ein breit gefächertes internationales Programm: In dem englischsprachigen Format beleuchten renommierte Expertinnen und Experten aus Europa, den USA, Indien und Singapur neue Entwicklungen auf den Feldern ihrer Expertise. Referenten aus den USA etwa berichten über die Rolle der Hyalozyten bei retinalen Erkrankungen, über aktuelle Fortschritte in der Hornhauttransplantation und Anti-VEGF-Inhibitoren als vielversprechende neue Therapieoption bei diabetischer Retinopathie; Experten aus Großbritannien diskutieren neue Ansätze auf dem Gebiet der digitalen Medizin und der Glaukomchirurgie. Mit Verbesserungen bei der Perimetrie des Glaukoms und neuen Konzepten auf dem Weg zu einer effizienten Therapie der trockenen AMD beschäftigen sich Vorträge aus den Niederlanden, über den Stand der Presbyopie-Korrektur samt Stellenwert der EDOF-IOL referiert eine Expertin aus Italien, und ein Beitrag aus Indien stellt neue Entwicklungen im Bereich der Limbusstammzelltransplantation vor.
Darüber hinaus diskutieren Experten aus Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Italien und Spanien in einem gemeinsamen Round-Table-Gespräch unterschiedliche nationale Strategien in der Gentherapie. Letztlich zeigen sich hier die Vorteile eines digitalen Kongresses – wir können internationale Gäste und Redner einladen, ohne dass diese lange Flugreisen unternehmen müssen.

Was zählt für Sie zu den besonderen Highlights des diesjährigen Programms?

Neben den International Expert Talks zählen für mich ganz klar die Keynote Lectures zu den persönlichen Highlights. Es geht in diesen Vorträgen um künstliche Intelligenz, Kontrastsehen, die Stammzellnische der Hornhaut und die Evolution der Glaukomchirurgie. Es war mir eine Ehre – und eine große Freude –, auf diese Themen vorab in Interviewgesprächen mit der Expertin und den Experten einzugehen. Die Videos sollen auf unterhaltsame Weise auf die Keynote Speaker aufmerksam machen, einen Vorgeschmack geben und Neugierde wecken. Sie sind auf der DOG-Webseite zu sehen. 

Bei Präsenzveranstaltungen ist das spontane Gespräch mit den Kolleginnen und Kollegen sehr wichtig. Besteht auch bei der digitalen DOG die Möglichkeit zum „informellen“ kollegialen Austausch?

Das lebendige Miteinander in einem Online-Format zu kreieren, ist naturgemäß schwierig und kann immer nur ein Kompromiss sein. Für die diesjährige DOG haben wir aber einige Events zur Auflockerung eingebaut, die nichts mit der Augenheilkunde zu tun haben. So kann man virtuell an einem Museumsbesuch teilnehmen oder an angeleiteten Yoga-Übungen vor dem Rechner, um sich etwas zu entspannen. Neu für die Teilnehmenden ist die Möglichkeit, sich auf der Kongress-Plattform in einen virtuellen Raum zurückzuziehen, in dem man sich treffen und per Video-Talk informell unterhalten kann – wir nennen dieses Networking-Tool „DOG Lounge“. Damit wollen wir den kollegialen Austausch stärken. 

Wie ist die Industrie dieses Jahr präsent?

Dass die Industrieausstellung nicht „real“ besucht werden kann, war uns bei der Planung von besonderer Bedeutung und Wichtigkeit. Die Einbindung der Industrie bei der DOG 2021 online erfolgt nun in Form individueller Firmenprofile und in Industrievorträgen. Sie können die verschiedenen Profile während der Kongresstage besuchen, mit den Ausstellern über die Chat- und Videofunktion in den Austausch treten und direkt Informationen zu Produkten und Geräten erhalten.
Abgerundet wird das Industrieangebot mit attraktiven Industrie Sessions wie Firmensymposien, Meet-the-Expert Sitzungen und Ausstellerforen. Auch wenn diese Formate eine persönliche Begegnung sicherlich nicht ersetzen, ermöglichen sie doch einen Dialog und erlauben Interaktivität und Kontakt unter den speziellen Bedingungen, die die Pandemie uns allen auferlegt.

Alle hoffen, dass die DOG 2022 wieder als Präsenzveranstaltung stattfinden wird. Wie werden sich die beiden digitalen Ausgaben auf den Kongress im kommenden Jahr auswirken?

Wie sich die Kongresslandschaft auf Dauer entwickeln wird, ist im Moment noch nicht abschätzbar. Möglicherweise werden wir in Zukunft eine Mischung aus beidem haben, nämlich den Präsenzkongress, der das gesellige Miteinander wieder fördert, als auch zugeschaltete Online-Versionen und Hybrid-Veranstaltungen. Inwieweit die „alte“ Präsenzkongresslandschaft wiederbelebbar ist, hängt ganz davon ab, was die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sich für die Zukunft wünschen. Es wird also eine Abwägung stattfinden zwischen den Vorteilen des einen und den Nachteilen des anderen und umgekehrt. Dieser Prozess ist im Grunde noch nicht abgeschlossen, und viel hängt davon ab, wie die Qualität dieser Formate angenommen wird und befruchtet werden kann. Ich persönlich wünsche mir für die Zukunft wieder Präsenz, aber auch internationale Speaker und Konferenzen, bei denen Experten zugeschaltet werden, so dass eine lebendigere Kongresslandschaft entsteht, die beides verknüpft.
Fragen: Achim Drucks/EYEFOX Redaktion

DOG Kongress
Do., 30. Sept. 2021 – So., 3. Okt. 2021
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