Gleichstellungspolitik im Krankenhaus: „Niemand sollte glauben, dass Chancengleichheit von allein kommt!“

Dr. Andrea Rothe leitet die Stabsstelle Betriebliche Gleichbehandlung der München Klinik, die mit 7.000 Beschäftigten zu den großen kommunalen Krankenhäusern gehört. Rothe verantwortet das aus Drittmitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF) finanzierte Projekt „Fachkräfte sichern durch Gleichstellungspolitik im Krankenhaus“. Im Interview erklärt sie, was andere Kliniken aus den Ergebnissen des Projekts lernen können.

©32 cdc / unsplash
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Frau Dr. Rothe, Ihr Projekt belegt u. a., dass Mentoring die Chancengleichheit fördert. Warum knüpfen Frauen so selten Förderbeziehungen?

Dr. Andrea Rothe: Förderbeziehungen bringen vor allem dann etwas, wenn sie zu Führungskräften aufgebaut werden. Bundesweit haben wir zu 90 Prozent männliche Chefärzte. Sie anzusprechen ist für Frauen oft schwieriger als Kontakt zu Chefärztinnen aufzubauen. Außerdem arbeiten viele Ärztinnen in Teilzeit. Zu Hause wartet der zweite ‒ unbezahlte ‒ Job im Haushalt und für die Kinder. Doch zum Knüpfen von Netzwerken braucht es Zeit und Muße.

Das ist die Perspektive der Frauen. Wie steht es um die männlichen Chefs? Sind die „Old Boys Networks“ in der Medizin besonders eng geknüpft?

Die Medizin ist immer noch sehr traditionell, patriarchal und hierarchisch. So entstehen Effekte wie die homosoziale Reproduktion, auch Similar-to-me-Effekt genannt. Chefärzte ziehen Leute nach, die ihnen ähnlich sind und letztlich sind Männer Männern ähnlicher als Frauen. Außerdem wird vieles informell verhandelt und auch da sind Frauen oft nicht mehr dabei, weil sie zu Hause Sorgearbeit leisten. So verfestigen sich die „Old Boys Networks“. Jüngere Männer überrunden Ärztinnen, die möglicherweise älter und erfahrener sind. Doch deren Qualität nehmen Chefärzte oft nicht wahr. Deshalb will unser Cross-Mentoring-Programm auch bewusst erfahrene Ärztinnen fördern.

Ziel des Projekts war auch, geschlechtsspezifische Stereotypen abzubauen. Welche Vorstellungen haben Chefärzte denn von jungen Ärztinnen?

Es gibt immer noch die Vorstellung, Medizin lasse sich nicht in Teilzeit machen. Viele Chefärzte hören auf, Frauen ab 30 zu fördern, weil sie Kinder bekommen könnten. Das ist eine strukturelle Benachteiligung, denn möglicherweise möchten die Frauen gar keine Kinder, haben einen Hausmann oder können die Kinderbetreuung super regeln. Kommen Frauen in Teilzeit zurück, wird übersehen, dass sie i. d. R. hocheffizient arbeiten. Stattdessen fällt auf, dass sie nicht immer da sind. Die Quantität der Zeit wiegt fast mehr als die Qualität der medizinischen Kompetenz. Wie wichtig diese Anwesenheitskultur noch ist, zeigen Bewerbungsverfahren. Wer verspricht, nie in Teilzeit zu gehen, wird positiver bewertet.

Wie lassen sich solche Denkmuster aufbrechen?

Ich habe den Eindruck, dass viele Chefärzte der guten alten Zeit nachtrauern, in der Ärzte immer verfügbar waren, weil sie zu Hause eine treusorgende Hausfrau hatten. Wir beobachten bei vielen Chefärzten eine verbale Aufgeschlossenheit bei gleichzeitiger Verhaltensstarre. Erst wenn sie merken, dass ihre Töchter und zunehmend ihre Ehefrauen an der gläsernen Decke scheitern, verändert sich die Einstellung.

Was kann außer der eigenen Erfahrung noch ein Umdenken bewirken?

Für die Chancengleichheit ist die Unterstützung der Geschäftsführung entscheidend. Im Unternehmen muss es Verantwortliche wie Gleichstellungsbeauftragte oder Genderexperten geben. Man braucht messbare Ziele, die mit einem Bonus gekoppelt werden können. Das Schwierigste ist schließlich die Unternehmenskultur. Führungskräfte müssen lernen, nicht zu diskriminieren. Vor allem unbewusst gibt es immer noch „Unconcious Biases“.

Welche Schulungen sind nötig?

Wir sensibilisieren dafür, dass Menschen unbewusst auf Stereotypen und den Similar-to-me-Effekt zurückgreifen und dem Gruppendruck nachgeben. Auch in Bewerbungsverfahren sollten sie zu ihrer eigenen Meinung stehen. So kann der erste Eindruck auch täuschen. Für solche Effekte zu sensibilisieren, wirkt sich nicht nur positiv auf die Chancengleichheit von Frauen aus, sondern auch z. B. auf Menschen anderer ethnischer Herkunft.

Das ESF-Projekt hatte ein Gesamtvolumen von 2,6 Mio Euro. Wie ließ der ESF sich überzeugen?

Wer Drittmittel beantragen möchte, muss zunächst schauen, welche Ausschreibungen es gibt. Wir haben die ESF-Ausschreibung „Fachkräfte sichern durch Gleichstellungspolitik“ dem Krankenhaus angepasst. Der Antrag ist eine Wissenschaft für sich, doch es gibt leider nur wenige Möglichkeiten, für soziale Projekte Gelder zu beantragen.

Wie haben Sie die Mittel eingesetzt?

Die vier Kooperationskrankenhäuser konnten jeweils für drei Jahre eine 40-Prozent-Stelle schaffen, die den Gleichstellungsbeauftragten zugeteilt war. Außerdem nutzten wir die Mittel für Honorare für TrainerInnen, Öffentlichkeitsarbeit und Reisekosten für die Treffen der Projektpartner.

Ihr Tipp an Kliniken, die sich ebenfalls für Gleichstellung stark machen möchten. Was sollte man in jedem Fall vermeiden?

Man sollte nicht glauben, dass Chancengleichheit von alleine kommt und ohne Ressourcen möglich ist. Das funktioniert nicht.

Frau Dr. Rothe, vielen Dank für das Gespräch!

Interview: Ursula Katthöfer (textwiese.com)