Großer Fortschritt, kleiner Nutzen: Warum Gentherapie bislang kaum Betroffenen hilft
Anlässlich des World Retina Day am 27. September 2025 weist der Verein Retina plus e.V. darauf hin, dass die erste zugelassene Gentherapie für erbliche Netzhauterkrankungen zwar ein Durchbruch der modernen Medizin ist, sie jedoch nur eine kleine Gruppe von Patienten erreicht. Aktuelle Berechnungen zeigen, dass weniger als 0,1 Prozent der Betroffenen in Deutschland für diese Behandlung infrage kommen.
Während die Gesamtzahl der Menschen mit genetischen Netzhauterkrankungen in Deutschland auf 50.000 bis 80.000 geschätzt wird, ist die Gentherapie Luxturna® ausschließlich für Patienten mit einer seltenen, durch eine Mutation im RPE65-Gen verursachten Netzhauterkrankung zugelassen. Exakte Berechnungen belegen, dass diese Therapie, bezogen auf die gesamte Patientengruppe, nur 0,098 % der Betroffenen hilft. Da in Deutschland keine exakten Daten erhoben werden, um die genauen Patientenzahlen zu ermitteln, basieren diese Angaben lediglich auf Schätzungen.
Erheblicher Teil der Fälle genetisch ungelöst
Die Problematik der niedrigen Patientenzahlen wird durch eine weitere, noch größere Herausforderung verschärft: Die über 250 bekannten Gene, die Netzhauterkrankungen auslösen, bilden noch nicht das vollständige Bild ab. Wissenschaftler gehen davon aus, dass ein erheblicher Teil der Fälle, schätzungsweise 20 % bis 40 %, genetisch ungelöst bleibt, weil die ursächlichen Mutationen in bisher unbekannten Genen liegen. Auch sind viele Betroffene, insbesondere Kinder, noch gar nicht genetisch erfasst oder diagnostiziert. Die tatsächliche Patientenzahl liegt daher vermutlich deutlich höher.
„Die Zahlen verdeutlichen die große Diskrepanz zwischen medizinischem Fortschritt und dem tatsächlichen Nutzen für die breite Patientenschaft“, erklärt Markus Georg, Vorstandsmitglied bei Retina plus e.V. „Es ist entscheidend zu verstehen, dass es sich hierbei nur um eine Teilgruppe der Patienten handelt. Die Dunkelziffer ist hoch.“
Die überwiegende Mehrheit der Patienten leidet unter Mutationen in anderen der über 250 bekannten Gene, die erblich bedingte Netzhauterkrankungen auslösen können. Für sie gibt es derzeit keine zugelassene Behandlung.
Systematische Datenerhebungen verstärken
Retina plus e.V. fordert daher, die Bemühungen um systematische Datenerhebungen zu verstärken, um ein vollständigeres Bild der Patientenzahlen zu erhalten. Gleichzeitig muss die Forschung für Gentherapien, Zelltherapien und andere innovative Behandlungen für alle genetischen Subtypen der Netzhauterkrankungen vorangetrieben werden. Eine genunabhängige Therapieoption wäre der Wunsch der Menschen, die mit dieser Erkrankung leben oder davon bedroht sind.
Erblich bedingte Netzhauterkrankungen führen zu fortschreitendem unaufhaltsamen Sehverlust, der bis zur Erblindung führen kann und in 99,9% der Fälle nicht therapierbar ist. Selbst wenn der Gendefekt vorliegt, wo eine Gentherapie möglich wäre, ist es wichtig, dass diese früh genug erkannt und diagnostiziert wird. Verlorenes Sehvermögen lässt sich nicht wiederherstellen.
Über Retina plus e. V.
Der Verein Retina plus e.V. wurde 2025 von Patienten gegründet, um Menschen mit Netzhauterkrankungen eine Stimme zu geben. Der Verein setzt sich für Aufklärung, Beratung und die Förderung von Forschung ein, um Betroffenen Zugang zu den bestmöglichen Behandlungsmöglichkeiten zu verschaffen.
Weitere Informationen finden Sie unter www.retinaplus.de
Fußnote:
Für absolute Zahlen ist die Datenlage in Deutschland schwierig, da es kein zentrales Register für erbliche Netzhauterkrankungen gibt. Die folgenden Schätzungen basieren daher auf wissenschaftlichen Veröffentlichungen und Zahlen von Patientenorganisationen.
Patienten mit genetischen Netzhauterkrankungen in Deutschland: Die Gesamtzahl der Menschen mit erblichen Netzhauterkrankungen in Deutschland wird auf 45.000 bis 80.000 geschätzt. Dieser Wert umfasst eine große Bandbreite an Erkrankungen, die durch Mutationen in über 250 verschiedenen Genen verursacht werden.
Patienten mit RPE65-Mutation: Die Zahl der Patienten, die potenziell für eine Behandlung mit Luxturna infrage kommen, ist wesentlich kleiner. Die Schätzungen sind hier ungenau, da die Mutation so selten ist. Eine Studie zur Nutzenbewertung von Luxturna schätzte die Zahl der Patienten mit einer RPE65-Mutation-assoziierten erblichen Netzhautdystrophie auf etwa 78 in Deutschland. Eine andere Quelle aus dem Jahr 2019 gab eine Schätzung von 200 bis 300 Patienten mit dieser Erkrankung an. Die Diskrepanz zwischen den Zahlen zeigt, wie schwierig es ist, präzise Angaben zu machen, wenn die Patienten nicht systematisch erfasst werden.
Links zu den genannten Quellen:
Schätzung von 78 Patienten mit RPE65-Mutation (Novartis Pharma GmbH Dossier): https://www.g-ba.de/downloads/92-975-5606/2022_03_30_Modul3_Voretigen_Neparvovec.pdf
Schätzung von 200 bis 300 Patienten mit RPE65-Mutation (Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband DBSV): https://www.dbsv.org/aktuell/rpe65-gentherapie.html
S1-Leitlinie „Erbliche Netzhaut-, Aderhaut- und Sehbahnerkrankungen“ (Deutsche Ophthalmologische Gesellschaft DOG): https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/045-023