Glaukom: Kann eine Protein die Progression stoppen?

Wie das Glaukom zur Erblindung führt, war lange Zeit ein Rätsel. Jetzt wirft eine bahnbrechende Entdeckung der Wissenschaftlerin Dr. Dong Feng Chen von der Mass Eye and Ear Klinik in Boston neues Licht auf diesen Mechanismus. Ihre Forschungen könnten zu einer vielversprechenden Behandlungsstrategie führen.

Mikroglia in einer Maus-Retina. Bild: Wai T. Wong, National Eye Institute, NIH
Mikroglia in einer Maus-Retina. Bild: Wai T. Wong, National Eye Institute, NIH

Die Arbeit von Dr. Chen hat eine Verbindung zwischen Neuroinflammation, Immunzellen im Auge und Glaukomschäden aufgedeckt. Als Neuroinflammation wird eine Immunreaktion bezeichnet, die in Gehirnzellen und den lichtempfindlichen Zellen und Neuronen der Retina auftritt.

Ihr Forschungsteam entdeckte einen Schalter, der diese Entzündung ausschalten könnte. Die Schädigung der Neuronen würde dadurch gestoppt und der Mechanismus, der bei einem Glaukom zur Erblindung führt, umgekehrt. Interessanterweise könnte dieser Mechanismus auch bei der Alzheimer-Krankheit und anderen neuroinflammatorischen Störungen eine Rolle spielen. Das Team veröffentlichte seine Forschungsergebnisse in Cell Reports.

„Das Glaukom“, so Dr. Chen. „ist tatsächlich die am häufigsten diagnostizierte neurodegenerative Erkrankung“. Mit seinem Fortschreiten werden die Ganglienzellen geschädigt, was zu einem irreversiblen Sehverlust führt. „Unsere Arbeit beweist, dass es einen gemeinsamen Mechanismus gibt, der die neuronale Degeneration im Auge und im Gehirn verursacht“, so Dr. Chen. „Wir haben jetzt einen Weg gefunden, die Neuroinflammation zu stoppen“.

Dong Feng Chen, MD, PhD, in ihrem Labor, Schepens Eye Research Institute, Mass Eye and Ear, Boston. Bild: Mass Eye and Ear

Dr. Chens Forschung und FireCyte, ein Unternehmen, das sie mitbegründet hat, wollen Wege finden, durch Glaukom verursachte Erblindungen zu verhindern. Außerdem hoffen sie, dass ihre Erkenntnisse über die Neuroinflammation im Auge zur Behandlung oder Vorbeugung anderer neurodegenerativer und entzündlicher Erkrankungen beitragen können.

„Das Auge ist ein perfektes Modell für die Untersuchung von Gehirnproblemen“, sagt Dr. Chen. „Es ist leicht zugänglich und ein vereinfachtes Modell, mit dem sich strukturelle und funktionelle Verluste viel leichter beurteilen lassen.“

Verstehen, wie ein Glaukom die Augen schädigt

Das Glaukom wird häufig mit einem erhöhten Augeninnendruck in Verbindung gebracht. Laut Dr. Chen ist es jedoch nicht der Druck selbst, der die Strukturen des Auges schädigt. Frühere Arbeiten von Dr. Chen und anderen haben die Rolle der entzündlichen Immunantwort beim Glaukom hervorgehoben. Ihre Forschungen haben ergeben, dass ein auslösendes Ereignis – in der Regel ein hoher Augeninnendruck, manchmal aber auch andere Faktoren – eine Immunreaktion und eine Entzündung hervorrufen kann.

„Wenn man den Augeninnendruck wieder auf ein normales Niveau bringt, schädigt die Immunreaktion weiterhin die Neuronen im Auge“, so Dr. Chen. „Deshalb löst die Senkung des Drucks das Problem des Glaukoms nicht.“

Die Mikroglia, eine Gruppe von Immunzellen des zentralen Nervensystems, die als Bindeglied zwischen Nerven- und Immunsystem Abfallstoffe und Zellreste beseitigen, steuern diese Immunreaktion. „Mikroglia sind wie Polizisten – sie überwachen aktiv die Umgebung, um potenzielle Bedrohungen durch Infektionen oder Verletzungen in den Augen zu erkennen und zu eliminieren“, erklärt Dr. Chen. „Wenn Infektionen oder Verletzungen auftreten, werden die Mikroglia aktiviert, um die Neuronen zu verteidigen.“

Wenn sie sich verteidigen müssen, rekrutieren die Mikroglia T-Zellen. Normalerweise sind das Gehirn und die Netzhaut „immunprivilegiert“, d. h. es zirkulieren dort keine T- oder B-Zellen. Doch wenn die Mikroglia aktiviert werden, rufen sie diese Immunzellen herbei. Studien haben ergeben, dass Mikroglia eine entscheidende Rolle bei der Neurodegeneration spielen – in der Netzhaut bei Glaukom und im Gehirn bei Erkrankungen wie etwa Alzheimer.

Im Falle des Glaukoms verursachen Mikroglia und T-Zellen eine Entzündung, die die Neuronen des Auges und die Ganglienzellen der Netzhaut schädigt.

„Wir haben vermutet, dass es eine Möglichkeit geben muss, diesen Prozess zu stoppen, wenn diese Schädigung eintritt und die Mikroglia aktiviert wird“, sagt Dr. Chen. „Diese T-Zellen müssen zurückgerufen werden und gesagt bekommen: 'Deine Aufgabe ist erledigt, sei still und sei nett – verletze nicht deine eigenen Zellen.“

„Wir stellten die Hypothese auf, dass es einen Weg geben muss, dies zu tun, aber niemand wusste, welcher das war“, so Dr. Chen.

Die Rolle des Proteins IGFBPL1 bei der Neuroinflammation

In ihrer neuen Studie konzentrierte sich das Team von Dr. Chen darauf, herauszufinden, welche Mechanismen an der Regulierung dieser Signalwege beteiligt sein könnten. Sie suchten nach Molekülen, die mit dem Überleben retinaler Ganglienzellen korrelieren, und fanden ein Protein, das wie ein Schalter wirkt, mit dem die Netzhautzellen aktivierte Mikroglia zurückrufen und so Entzündungen und Schädigungen des Auges stoppen.

Bei diesem Molekül handelt es sich um das bislang nur wenig bekannte IGFBPL1 „Es war überraschend – wir suchten dieses neue Molekül in PubMed und fanden nur etwa zehn Veröffentlichungen“, konstatiert Dr. Chen. „Niemand wusste, was es bewirkt.“

Die Forscher führten mehrere Experimente durch, um die Rolle von IGFBPL1 und der Mikroglia in Modellen der Neuroinflammation des Auges und des Glaukoms zu verstehen. Als sie normalen Mikroglia IGFBPL1 verabreichten, gab es kaum eine Reaktion. Wenn sie jedoch aktivierten Mikroglia dieses Protein verabreichten, kehrten sie in einen normalen Ruhezustand zurück.

Entzündungsreaktion ausschalten

„Das war etwas, was noch niemand zuvor gesehen hatte“, so Dr. Chen. „Es sagte uns, dass IGFBPL1 wie ein Schalter wirkt, der die Entzündungsreaktion ausschaltet.“

Das Team züchtete ein Mausmodell, bei dem IGFBPL1 fehlte, und stellte fest, dass die Mikroglia ohne diesen Mechanismus aktiviert werden und dann auch aktiv bleiben. Das führte zu Neurodegeneration und zur Entwicklung von Glaukom und Alzheimer-typischen Symptomen.

Anschließend testeten sie das Protein in einem Mausmodell mit hohem Augeninnendruck und Anzeichen von Neuroinflammation und Sehkraftverlust.

„Wir stellten fest, dass die normale Sehfunktion wiederhergestellt werden konnte. Dabei wurde nicht nur das Überleben der retinalen Ganglienzellen unterstützt, sondern auch der gesamte Entzündungsprozess gestoppt“, so Dr. Chen. „Wir können die Erkrankung nahezu heilen; wir stoppen die Neurodegeneration.

Das Verständnis dieses Signalwegs und die Erforschung der Wirkungsweise von IGFBPL1 seien der erste Schritt, um die durch das Glaukom verursachte Erblindung zu stoppen. Die Forscher arbeiten nun daran, diese Entdeckungen für die Entwicklung von Therapien zu nutzen.

„Wir machen uns dieses Protein zunutze, um ein Medikament zur Behandlung des Glaukoms zu entwickeln“, so Dr. Chen, die dazu auch das Unternehmen FireCyte mitbegründet. Es will neuartige Behandlungsstrategien für fortschreitende neurodegenerative Erkrankungen des Auges entwickeln und erforschen verschiedene Methoden, die auf diesen Signalweg abzielen. 

Quelle: Mass Eye and Ear

Originalarbeit: IGFBPL1 is a master driver of microglia homeostasis and resolution of neuroinflammation in glaucoma and brain tauopathy, Cell Reports