Harvard-Forscher erstellen vollständigen Zellatlas des menschlichen Auges

Der von Wissenschaftlern der Harvard University erstellte Zellatlas des menschlichen Auges zeigt, wo krankheitsverursachende Gene exprimiert werden. Er könnte nicht nur den Weg zu gezielteren Gentherapien ebnen, sondern auch zu einem neuen Verständnis der enormen Komplexität des menschlichen Sehens beitragen.

Sanes Lab / Harvard University
Sanes Lab / Harvard University

Nach mehr als einem Jahrzehnt Forschungsarbeit hat ein Team der Harvard University unter der Leitung des Neurobiologen Joshua Sanes einen vollständigen Katalog der fast 160 Zelltypen erstellt, die in allen Strukturen des menschlichen Auges vorkommen, sowie ein Verzeichnis der Gene, die jeder Zelltyp exprimiert. Sie präsentieren ihre Ergebnisse, die sie als Zellatlas des menschlichen Auges bezeichnen, in der Zeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences.

Um den Zellatlas des Auges zu vervollständigen, wurden in der aktuellen Studie rund 151.000 einzelne Zellkerne aus Komponenten des hinteren Augensegments analysiert: Sehnerv, Sehnervenkopf, peripapilläre Sklera, periphere Sklera, Aderhaut und retinales Pigmentepithel. Defekte in jedem dieser Gewebe werden mit Erblindungskrankheiten in Verbindung gebracht, z. B. Glaukom (Sehnervenkopf / peripapilläre Sklera), Optikusneuritis (Sehnerv), Retinitis pigmentosa (retinales Pigmentepithel) und altersbedingte Makuladegeneration (retinales Pigmentepithel und Aderhaut).

Der Atlas bietet eine solide Grundlage für die Untersuchung der Pathogenese von Hunderten von Augenkrankheiten, von denen die meisten unheilbar sind. "Unser Atlas kann verwendet werden, um zu beurteilen, welche Zelltypen ein krankheitsassoziiertes Gen exprimieren, und so Wege zur Entwicklung wirksamer therapeutischer Strategien aufzeigen", erklärt Sanes.

Der Professor für Molekular- und Zellbiologie und Gründungsdirektor des Harvard Center for Brain Science interessiert sich seit langem dafür, wie sich komplexe neuronale Schaltkreise im Gehirn von Säugetieren bilden, insbesondere in der neuronalen Retina. Vor mehr als 10 Jahren begannen Sanes und seine Kollegen mit der Einzelzell-RNA-Sequenzierung, um Gene zu identifizieren, die in Tausenden von Netzhautzellen gleichzeitig exprimiert werden. Mit der damals neuen Technologie und einer immer leistungsfähigeren Bioinformatik konnten sie die Zellen der neuronalen Retina anhand ihrer RNA-Transkripte katalogisieren.

Aus Interesse an der Pathogenese der Erblindung wandte sich Sanes der RNA-Sequenzierung zu, um nicht nur die Zellen der Netzhaut, sondern des gesamten menschlichen Auges zu analysieren, einschließlich der umliegenden Strukturen wie Hornhaut, Iris und Sehnerv. 

Insgesamt haben Sanes und sein Team fast 160 Zelltypen identifiziert. Einige sind spezifisch für Bereiche wie die Linse oder die Netzhaut, während in mehreren Bereichen zu finden sind. Ihre Analyse bildet eine Grundlage, um bestimmen zu können, welche Zelltypen welche Gene exprimieren und wo die Gene exprimiert werden. Gegenwärtig zielen viele Bemühungen um eine Therapie von Augenerkrankungen auf die eine oder andere Weise auf diese Gene ab. Um eine wirksame Therapie zu entwickeln, ist es jedoch von entscheidender Bedeutung, zu wissen, wo das Gen exprimiert wird. Der Atlas liefert diese Informationen.

Schnitt durch den Sehnervenkopf und das umgebende Gewebe mit Immunfärbung zur Darstellung verschiedener Zelltypen (ONH Sehnervenkopf, RPE retinales Pigmentepithel, ON Sehnerv, PPS peripapilläre Sklera). Bild: Sanes Lab / Harvard University

Als Beispiel haben Sanes und sein Team ihren Atlas verwendet, um die Expression von mehr als 180 Genen zu kartieren, die mit dem Glaukom in Verbindung stehen. Die Forscher fanden Glaukom-assoziierte Gene, die in zahlreichen Zelltypen exprimiert werden, darunter in der Netzhaut, dem Trabekelwerk und dem Sehnervenkopf, sowie an einigen Stellen, die sie nicht erwartet hatten, wie dem retinalen Pigmentepithel.

Die Kartierung der genetischen Expression im menschlichen Auge könnte Informationen für neue Therapieoptionen für verschiedene zur Erblindung führende Erkrankungen liefern. Gleichzeitig gibt er Hinweise auf die Entwicklung des menschlichen Sehvermögens. Zu diesem Zweck hat das Labor von Sanes mithilfe der Einzel-RNA-Sequenzierung neuronale Zellatlanten von Primaten, Nagetieren, Fischen, Vögeln und anderen Tierarten erstellt. Durch den Vergleich der Zelltypen, die bei allen Arten gleich sind, können die Forscher Rückschlüsse auf die Evolution der Netzhaut ermöglichen.

Quelle: Harvard University
Studien: Transcriptomic analysis of the ocular posterior segment completes a cell atlas of the human eye
               Cell Atlas of The Human Fovea and Peripheral Retina