Neues zur Behandlung der Frühgeborenenretinopathie: Chancen und Risiken der intravitrealen Medikamentengabe

65.000 Kinder kommen in Deutschland in jedem Jahr zu früh zur Welt – und es werden mehr. Sie gehören zu einer ophthalmologischen Risikogruppe. 12.000 dieser Kinder werden wegen der Gefahr einer Frühgeborenenretinopathie untersucht. Dr. Bert Müller, Charité – Universitätsmedizin Berlin, berichtete im Rahmen der Auftaktpressekonferenz der AAD über die Erfahrungen mit der intravitrealen Behandlung dieser Gefäßerkrankung der Netzhaut.

Frühgeborenenretinoptahie nach Behandlung mit VEGF-Hemmer. Bild: Dr. Bert Müller, Charité – Universitätsmedizin Berlin
Frühgeborenenretinoptahie nach Behandlung mit VEGF-Hemmer. Bild: Dr. Bert Müller, Charité – Universitätsmedizin Berlin

Schreitet die Frühgeborenenretinopathie (retinopathy of prematurity, ROP) rapide fort, dann muss sie umgehend behandelt werden, um zu verhindern, dass das Kind erblindet. Die zu frühe Geburt hat zudem auch noch andere Folgen für das visuelle System:

  • Die Sehschärfe ist häufig reduziert.
  • Etwa fünf bis 20 Prozent der Kinder entwickeln eine hohe Kurzsichtigkeit.
  • Bis zu 25 Prozent der Kinder schielen.
  • Das räumliche Sehen entwickelt sich häufig nicht normal.
  • Das Gesichtsfeld kann eingeschränkt sein.
  • Die Kontrastempflindlichkeit ist mitunter reduziert.
  • Die Auge-Hand-Koordination ist möglicherweise gestört.

Dies alles wirkt sich auf die Entwicklung des Kindes aus und hat Einfluss auf die Aufmerksamkeit, die Kognition und das Verhalten.

Ziel der augenärztlichen Betreuung von den ersten Lebenswochen an ist es, eine möglichst normale Entwicklung des visuellen Systems sicherzustellen, damit das Kind mit so wenigen Beeinträchtigungen wie möglich heranwächst.

Die ROP ist die größte Bedrohung für das Sehvermögen der Kinder. Wird sie nicht behandelt, kann es zu einer Netzhautablösung oder -verziehung kommen – mit der Folge, dass das Kind sehbehindert wird oder dass es erblindet. Dies gilt es auf jeden Fall zu vermeiden.

Behandlung mit Antikörpern gegen VEGF

Seit dem Jahr 2010 wird die Behandlung der ROP mit Anti-VEGF-Medikamenten erforscht. Bisher fanden Untersuchungen zu drei Präparaten statt.

Der Wirkstoff Ranibizumab (Handelsname Lucentis) erhielt 2019 die Zulassung für die Behandlung bei Frühgeborenen. Im off-label-use wird auch Bevacizumab (Handelsname Avastin) verwendet. Aflibercept (Handelsname Eylea) erhielt im November 2022 eine Zulassungsempfehlung in der EU. Damit stehen dann mehrere Wirkstoffe zur Auswahl. In der täglichen Praxis gilt es, zunächst zu entscheiden, ob die Laserkoagulation zum Einsatz kommt oder die medikamentöse Therapie und dann abzuwägen, welches Präparat am besten geeignet ist.

Einiges spricht für die Anti-VEGF-Therapie: Um die Medikamente ins Auge zu geben, ist keine Vollnarkose notwendig, eine Sedierung und örtliche Betäubung genügen. Die Behandlung wirkt sofort, das Netzhautgewebe wird nicht zerstört und es ergeben sich keine behandlungsbedingten hochgradigen Fehlsichtigkeiten wie sie oft nach einer Laserbehandlung zu beobachten sind. Doch auch die Nachteile müssen bei einer Therapieentscheidung berücksichtigt werden.

Es handelt sich um eine invasive Behandlung, bei der ein Infektionsrisiko berücksichtigt werden muss wie es bei einer Augenoperation gegeben ist. Bei der Behandlung können auch Strukturen des Auges verletzt werden, beispielsweise kann es zu einer Katarakt kommen. Das Medikament wirkt zwar sofort im Augen- inneren, die Wirkdauer ist aber auf wenige Wochen begrenzt. Die Krankheit kann wiederaufflammen. Deshalb sind viele, regelmäßige Nachkontrollen unerlässlich und eine weitere Behandlung oder auch eine Lasertherapie kann notwendig werden. In Einzelfällen wurde schon beobachtet, dass es noch zehn Jahre nach der Geburt ein spätes Rezidiv gab.

Kinder sind keine kleinen Erwachsenen

Bei der Behandlung der Frühgeborenen sind auch etliche Besonderheiten zu berücksichtigen – die altbekannte Weisheit „Kinder sind keine kleinen Erwachsenen“ gilt für Frühgeborene ganz besonders. Es beginnt schon mit der korrekten Dosierung des Medikaments. In das kleine Auge wird nur eine winzige Menge gegeben – zwei Hundertstel eines Milliliters (20μl).

Für die Desinfektion der Lider und der Haut um das Auge herum kommen jodfreie Mittel zum Einsatz, um sicherzustellen, dass das Jod nicht die Aktivität der Schilddrüse beeinflusst. Auch die Größenverhältnisse im Auge sind bei Kindern anders als bei Erwachsenen: Die Linse ist im Verhältnis zum Augapfel größer. Beim Ansetzen der Injektionsnadel ist das zu berücksichtigen, denn schon eine leichte Berührung der Linse würde eine Katarakt verursachen.

Besonderheiten der Wirkstoffe

Zu berücksichtigen sind zudem die Besonderheiten der einzelnen Wirkstoffe. So ist bekannt, dass der Anti-VEGF-Wirkstoff Bevacizumab aus dem Auge in den Körper des Kindes gelangen kann. Eine Freisetzung ist über Wochen messbar, aber es ist noch unklar, welche Nebenwirkungen er dort auslösen kann. Da Bevacizumab für die Therapie der ROP nicht zugelassen ist, müssen die Eltern besonders sorgfältig aufgeklärt werden, wenn es eingesetzt wird.

Bei Ranibizumab gab es zunächst relativ viele Kinder, die auf die Therapie nicht ansprachen: Bei neun Prozent der behandelten Säuglinge versagte die Therapie. Da vermutet wurde, dass die winzige Menge von 20μl in einer Tuberkulinspritze nicht genau genug dosierbar ist, wird das Präparat inzwischen in einer Präzisionsspritze bereitgestellt. Die Rezidivrate liegt für Ranibizumab bei bis zu 21 Prozent. Das heißt, dass bis zu einem Fünftel der Kinder nach durchschnittlich sieben Wochen erneut behandelt werden müssen. Bei Bevacizumab liegt die Rezidivrate dagegen bei neun Prozent der Kinder, die im Durchschnitt nach 15 Wochen noch einmal behandelt werden müssen.

Für die Behandlung und dann erst recht für die Entscheidung, ob und wann ein Kind erneut behandelt werden muss, benötigt der behandelnde Augenarzt/die Augenärztin viel Erfahrung. Ein Rezidiv verläuft langsamer als die erste Erkrankung und auch die Halbwertszeit des eingesetzten Antikörpers spielt eine Rolle. Mit der Zeit reifen auch die Wände der Blutgefäße und reagieren nicht mehr so schnell auf VEGF. Daher kann die Indikation zur Folgebehandlung individuell variieren.

Zustand nach Laserkoagulation mit großflächigen Narben (l.) bei behandlungsbedürftiger Frühgeborenenretinoptahie und nach Behandlung mit VEGF-Hemmer (r.)

Wann und wie finden die Nachkontrollen statt?

Das ROP-Screening findet in der Klinik statt, in der das Kind direkt nach der Geburt betreut wird. Aber auch nach der Entlassung ist eine kompetente Nachsorge erforderlich. Zumindest die Kinder, die wegen einer ROP mit Anti-VEGF-Medikamenten behandelt wurden, sollten auch weiterhin in einer spezialisierten Einrichtung betreut werden.

Denn bei den behandelten Kindern werden die Randbereiche der Netzhaut wahrscheinlich nie vollständig ausreifen. Es ist zu erwarten, dass es am Rand immer Netzhautgebiete geben wird, in denen es keine Blutgefäße gibt und in denen unterschwellig immer noch der Wachstumsfaktor VEGF freigesetzt wird. Das kann auch über Monate und Jahre andauern und birgt das Risiko, dass sich eine langsam fortschreitende krankhafte Gefäßentwicklung ergibt. Die Folge können Narben sein und Zugkräfte an der am Rand nur sehr schlecht einsehbaren Netzhaut. Die „adulte“ Frühgeborenenretinopathie gilt inzwischen als eigenes Krankheitsbild.

Die notwendigen Nachuntersuchungen sind im Alter bis etwa 6 Monate noch gut möglich, danach wird es oft schwierig, weil die Kinder nicht kooperieren. Dann kann es sein, dass die Untersuchungen in Narkose stattfinden müssen und dass sie im Bedarfsfall sofort behandelt werden. Über diese Möglichkeiten verfügen nur Kliniken, die auch eine ROP behandeln.

Die Eltern erhalten ein Einlegeblatt in das Gelbe Heft, in dem alle Vorsorgeuntersuchungen für Kinder dokumentiert werden. Auf dem Einlegeblatt werden die Behandlung mit Datum und ausführendem Arzt aufgeführt, zudem die Kontrolluntersuchungen mit ihren Befunden dokumentiert und das geplante Datum der nächsten Kontrolle. Gerade nach der Behandlung mit Anti-VEGF-Medikamenten ist es unerlässlich, dass die Eltern diese Nachsorgetermine zuverlässig wahrnehmen.

Fazit

Frühgeborene Kinder sind ophthalmologische Risikopatienten. Vor allem eine fortschreitende Frühgeborenenretinopathie gilt es rechtzeitig zu erkennen und zu behandeln. Die Therapie mit Anti-VEGF-Medikamenten hat die Möglichkeiten in den vergangenen Jahren erweitert. Sie birgt Vorteile gegenüber der Lasertherapie – sie kann unter örtlicher Betäubung ausgeführt werden und schont das Netzhautgewebe – doch sie hat auch Nachteile, die zu berücksichtigen sind. Insbesondere lässt die Wirkung nach einigen Wochen nach, sodass Wiederbehandlungen nötig sein können. Regelmäßige Kontrolluntersuchungen sind dringend notwendig. In Einzelfällen wurde schon beobachtet, dass die Krankheit nach zehn Jahren wieder aufflammte. Wenn ein „Frühchen“ einmal wegen ROP behandelt werden musste, wird es deshalb dauerhaft ein Augenpatient bleiben.

Dr. Bert Müller
Charité – Universitätsmedizin Berlin / Klinik für Augenheilkunde 

Quellen:
Mintz-Hittner HA, Kennedy KA, et al. BEAT-ROP Cooperative Group. Efficacy of intravitreal bevacizumab for stage 3+ retinopathy of prematu- rity. N Engl J Med. 2011 Feb 17;364(7):603-15.
Stahl A, Lepore D, et al, Ranibizumab versus laser therapy for the treatment of very low birthweight infants with retinopathy of prematurity (RAINBOW): an open-label randomised controlled trial. Lancet. 2019 Oct 26;394(10208):1551-1559