In-vitro-Augenirritationstest mit modifiziertem Cornea-Modell soll Tierversuche ersetzen

Bislang muss das Augenreizungspotenzial von chemischen Substanzen mit Hilfe des Draize-Tests an lebenden Kaninchen untersucht werden. Forschende des Translationszentrums für Regenerative Therapien TLZ des Fraunhofer-Instituts für Silicatforschung ISC wollen nun gemeinsam mit Partnern die Tierversuche ersetzen: Im Labor kultivierte Gewebemodelle der menschlichen Augenhornhaut sollen den Draize-Test vollständig ersetzen und als künftiges Standardverfahren etabliert werden.

pexels /nadine ginzel
pexels /nadine ginzel

Ein Tropfen Säure genügt, um die Hornhaut zu schädigen und eine bleibende Narbe zu hinterlassen. Wenige Tropfen basischer Lösungen können sogar die gesamte Hornhaut für immer eintrüben. Daher untersuchen Experten die potenzielle Gefahr von Augenreizungen durch Chemikalien seit 1944 mit dem Draize-Test. Dabei werden die Substanzen Kaninchen in die Augen geträufelt. Nach Tagen werden dann die chemischen Substanzen klassifiziert: in die GHS-Kategorie 1 (Globally Harmonized System of Classification and Labelling of Chemicals) für irreversible Schädigung, GHS-Kategorie 2 für reversible Schädigung oder in nicht kennzeichnungspflichtige, weil nicht schädigende Chemikalien.

Wissenschaftler weltweit arbeiten unter Hochdruck an einer Alternative zu dem belastenden toxikologischen Tierversuch. Bisher konnte jedoch ohne Tierversuch keine zuverlässige Unterscheidung zwischen irreversiblen und reversiblen Schädigungen getroffen werden, sodass ein kompletter Ersatz des Draize-Tests nicht möglich war. Forschende am Fraunhofer-Translationszentrum für Regenerative Therapien TLZ des Fraunhofer ISC in Würzburg entwickeln derzeit gemeinsam mit Partnern aus Industrie und Forschung im Projekt ImAi (siehe Kasten) ein impedanzbasiertes In-Vitro-Testsystem, das diese Unterscheidung ermöglicht. Zugleich soll es bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD eingereicht und als neue Prüfrichtlinie etabliert werden.

Impedanzbasierter Augenschädigungstest

Das neue Testverfahren kombiniert ein modifiziertes Cornea-Modell, das auf humanen Gewebemodellen basiert, mit nicht-invasiver Impedanzspektroskopie. »Wir züchten zunächst im Labor menschliches Gewebe, das den vorderen Teil der Hornhaut, der Cornea, nachbildet. Die Gewebezellen werden von einer Zellmembran umhüllt, die aufgrund ihrer chemischen Zusammensetzung wie ein elektrischer Isolator wirkt. Bilden die Zellen eine oder mehrere geschlossene Schichten, dann entsteht ein messbarer Widerstand. Die Barriereeigenschaften von Epithelien, der äußersten Schicht der Hornhaut, können über den elektrischen Widerstand ermittelt werden«, erläutert Dr. Christian Lotz, Wissenschaftler am Fraunhofer TLZ, das Prinzip. Verursacht nun eine Testsubstanz eine Schädigung am Auge, wird die Barriere zerstört, Zellen sterben ab, Löcher entstehen und der Widerstand sinkt. Der Strom kann wieder frei fließen. Je mehr Zellschichten absterben, umso weiter sinkt der Widerstand. Auf diese Weise lässt sich indirekt, ohne das Gewebemodell zu zerstören, also nicht-invasiv, der Zustand des Gewebes mit dem Impedanzspektrometer messen. Ist das Zellgewebe nicht geschädigt, fällt der Widerstand hoch aus. Sind die Zellen hingegen zerstört, bricht die elektrische Barriere ein.

Zellkulturplatte mit Gewebekammern für 24 Cornea-Modelle. Bild: © Fraunhofer ISC

Unterscheidung zwischen reversibler und irreversibler Schädigung möglich

»Im Gegensatz zu anderen Methoden ist unser impedanzbasierter Augenschädigungstest nicht destruktiv, wir können dasselbe Modell immer wieder messen, und analysieren, ob sich das Gewebe im Lauf von sieben oder auch mehr Tagen erholt oder nicht«, sagt der Biomediziner. Bei einer toxischen Substanz der Kategorie 1 ist das nicht der Fall, bei einer Chemikalie der Kategorie 2 regeneriert sich das Zellgefüge hingegen innerhalb von sieben Tagen wieder, sodass sich eindeutig klassifizieren lässt, ob eine irreversible oder eine reversible Schädigung vorliegt. »Unterschiedliche Chemikalien können innerhalb eines Testlaufs auf das In-vitro-Gewebemodell aufgebracht werden, und wir können sogar die Regeneration messen. Dies ist ein Novum und bis dato nicht realisierbar. Ob sich das Zellgefüge nach sieben Tagen erholt, konnte bislang nicht festgestellt werden. Dank der Impedanzspektroskopie gelingt dies mit unseren Tests sehr gut.«

Das mobile Impedanzspektrometer zum Analysieren der In-vitro-Gewebemodelle ist ein Viertel so groß wie ein dickes Buch. Es umfasst neben einer Elektrodenplatte zum Messen des elektrischen Widerstands eine Zellkulturplatte mit Gewebekammern für 24 Cornea-Modelle sowie die Elektronik. Zur Auswertung wird das Gerät an einen Laptop angeschlossen. Aufgrund seiner geringen Größe kann man es problemlos zur Zellkulturbank mitnehmen.

Multilaborstudie legt Grundlage für neue Prüfrichtlinie im Rahmen der OECD

Für die Tests wurde zunächst ein Trainingsset bestehend aus 70 Substanzen – darunter Säuren, Basen und andere Chemikalien – aus den unterschiedlichen GHS-Kategorien herangezogen. Derzeit wird im Rahmen einer Multi-Laborstudie unter Beteiligung des Bundesinstituts für Risikobewertung und der Goethe-Universität die Reproduzierbarkeit des Tests nachgewiesen. Hierfür verwenden die Labore ein optimiertes, verblindetes Validierungsset, das 30 Testsubstanzen umfasst. »Mit der Multilaborstudie wollen wir nachweisen, dass nicht nur das Fraunhofer ISC die neuartige, nicht-invasive Messmethodik anwenden kann, sondern auch andere Forschungseinrichtungen«, erklärt Lotz. Anhand der Ergebnisse wird entschieden, ob im Rahmen der OECD eine neue weltweit anerkannte Prüfrichtlinie entwickelt wird, die den regulatorischen Bedürfnissen entspricht und die Vorhersagen über die Wirkung von Chemikalien auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt ohne den Einsatz von Tierversuchen ermöglicht. »Wir sind zuversichtlich, dass in etwa zwei bis drei Jahren eine neue international anerkannte Prüfrichtlinie als tierversuchsfreie Alternative zur Verfügung steht.«

Quelle: Fraunhofer-Gesellschaft