„Immer nah am Puls der Forschung“ – Ein Interview mit Dr. Sandra Jansen über die Arbeit von PRO RETINA

PRO RETINA ist die größte Selbsthilfevereinigung von und für Menschen mit Netzhautdegenerationen in Deutschland. Seit 45 Jahren engagiert sie sich nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für die Erforschung von Netzhauterkrankungen. Dabei verfügt der Verein über ein breites Netzwerk in Wissenschaft und Augenheilkunde.

© Dr. Sandra Jansen
© Dr. Sandra Jansen

Die Neurobiologin Dr. Sandra Jansen arbeitet seit 2017 als Fachreferentin bei PRO RETINA. Sie leitet zudem das Patientenregister, das Betroffenen von Netzhautdegenerationen die Teilnahme an klinischen Studien erleichtert. Wir haben mit Dr. Jansen darüber gesprochen, wie PRO RETINA die Arbeit von Augenärzten ergänzt, die Betroffenen unterstützt und Forschung fördert.

Frau Dr. Jansen, was ist das Besondere an Pro Retina?

Dr. Sandra Jansen: Pro Retina ist eine Selbsthilfeorganisation, die nach den Leitsätzen „Selbstbestimmt leben“ und „Forschung fördern“ agiert. Wir sind einerseits in mehr als 60 über ganz Deutschland verteilten Regionalgruppen organisiert, sodass sich jeder Ratsuchende an eine eigenständige Regionalgruppe wenden kann. Wir machen aber auch Beratungen zu ungefähr 45 Netzhauterkrankungen. Das heißt, wir haben zu fast jeder seltenen Erkrankung einen diagnosespezifischen Berater. Wir beraten von Betroffenen für Betroffene. Wir verstehen die Betroffenen als die eigentlichen Experten der Erkrankung. Sie wissen aus eigener Erfahrung, was die Patienten durchmachen, in welches Loch sie manchmal fallen. Dass sie in ein Loch fallen, lässt sich zwar nicht verhindern, aber wir helfen, dass sie nicht ganz so tief fallen. Außerdem verfügen wir über ein Patientenregister und informieren Patienten über klinischen Studien. Auf der anderen Seite vermitteln wir aber auch Studienausrichtern Patienten mit den seltenen Erkrankungen, zu denen sie forschen. Zur altersabhängigen Makuladegeneration gibt es noch einen eigenen Bereich, abgegrenzt von den seltenen Netzhauterkrankungen. Es gibt sehr viele, meist ältere AMD-Patienten, die betreut werden müssen. Dabei geht es teilweise um existenzielle Fragen: Wie kann ich trotz meiner Erkrankung ein selbstbestimmtes Leben führen? Kann ich in meiner Wohnung bleiben? Aber auch um die Frage, wie man seine Spritzentherapie organisiert oder wie sie funktioniert. Das wird nicht immer verstanden. Da gibt es sehr viel Aufklärungsbedarf. Diese Aufklärung leisten wir in unseren Beratungen, aber auch auf unserer Website und den zahlreichen Pro-Retina-Broschüren, die wir unseren Patienten und Ratsuchenden, aber auch Ärzten an die Hand geben können.

Können Augenärzte bei Pro Retina Broschüren für Ihre Praxis bestellen?

Ja, selbstverständlich. Die Broschüren können kostenlos bei uns in der Geschäftsstelle in Bonn für die Patienten bestellt werden.

Das Besondere an Pro Retina ist auch die enge Zusammenarbeit mit der Forschung. Wie kam es dazu und wie sieht diese Zusammenarbeit aus?

Das war bereits von Anfang an gegeben. Das liegt daran, dass unser Gründer, Herr Dr. Rainald von Gizycki, als junger Soziologiestudent von einer Retinitis Pigmentosa betroffen war. An der Heidelberger Universität bewegte er sich in einem forschungsaffinen Umfeld. Damals, vor mehr als 40 Jahren, gab es nichts, keine Beratungsangebote oder ähnliches, und so hat er dann seinen eigenen Verein gegründet, in dessen Leitsätzen eben auch die Förderung der Forschung steht. Wir waren immer nah am Puls der Forschung und haben daraufhin vor einigen Jahren auch unser Patientenregister für die klinische Forschung, für die Grundlagenforschung ins Leben gerufen.

Pro Retina vergibt auch Stipendien und Forschungspreise.

Genau. Das läuft über unsere Stiftung. Die Pro Retina Stiftung vergibt jährlich Forschungspreise und -stipendien.

Welche aktuellen Forschungsprojekte werden denn von Pro Retina gefördert?

Unsere Stiftung vergibt jährlich zwei Forschungspreise. Der Grundlagenwissenschaftliche Forschungspreis 2021 ist an Cameron Cowan und Magdalena Renner, Institut für Molekulare und Klinische Ophthalmologie Basel (IOB) verliehen worden. Sie haben eine Methode entwickelt, wie aus induzierten pluripotenten menschlichen Stammzellen (IPS) Netzhaut-Organoide gezüchtet werden können. Diese hochrangige wissenschaftliche Leistung erlaubt es, Mechanismen retinaler Erkrankungen in Organoiden überzeugend zu untersuchen. Der klinische Forschungspreis 2021 ging an Marlene Saßmannshausen, Universitäts Augenklinik Bonn. Zusammen mit ihren Ko-Autoren konnte sie die strukturellen und funktionellen Netzhautveränderungen in Augen mit intermediärer altersabhängiger Makula-Degeneration (iAMD) und kritische Hochrisikomerkmale für die Entwicklung von Spätstadien der Erkrankung definieren.

Inwiefern ergänzt Pro Retina die Arbeit der Augenärzte?

Ärzte haben nicht die Zeit, nach der Diagnose den Patienten ausführlich aufzuklären. Das gibt unser Gesundheitssystem einfach nicht her. Was ich mir wünschen würde ist, dass die Ärzte ihren Patienten sagen, da gibt es eine Selbsthilfeorganisation von Betroffenen für Betroffene, die sind für euch da. Wir haben die Zeit, auch einmal eine Stunde lang zuzuhören, ganz einfach aktiv zuzuhören. Diese menschliche Zuwendung hilft den Betroffenen sehr. Gleichzeitig informieren wir auch über ganz konkrete Hilfsmöglichkeiten –sozial, rechtlich oder was technische Hilfsmittel anbetrifft. Wir können dabei helfen, selbstbestimmt zu leben. Ich betrachte das als eine Art Teamwork. Wir mischen uns nicht in die medizinische Expertise ein, das steht uns gar nicht zu. Das überlassen wir natürlich selbstverständlich den Augenärzten. Aber alles drumherum. Da gibt es so viele Sachen, die geregelt werden müssen. Und viele Betroffene wissen gar nicht, was ihnen zusteht. Hier möchten wir gerne aufklären und den Betroffenen mit Rat und Tat zur Seite stehen.

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