Der Arzt zwischen medizinischem Fortschritt und vertragsarzt-/haftungsrechtlichen Vorgaben

Der medizinische Fortschritt bringt in einem Tempo neue Behandlungsmethoden hervor, bei dem die die Vergütungs- bzw. Erstattungsebene nicht mithält. Behandler stehen zudem immer wieder vor haftungsrechtlichen Problemen: Was heute noch haftungsträchtige Außenseitermethode war, kann morgen schon der neue Goldstandard sein.

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Und der hat vielleicht aber (noch) nicht in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen Eingang gefunden. Die Schwierigkeit für den Arzt besteht in Grenzfällen zu allem Überfluss darin, dass verschiedene Gerichtszweige zuständig sind und verschiedene Maßstäbe anlegen. 

Medizinische Notwendigkeit im Vergütungsrecht 

Die gute Nachricht vorweg: Der Honoraranspruch des behandelnden Arztes gegen seinen Patienten ist zunächst einmal völlig losgelöst von einer etwaigen Erstattungsfähigkeit der Leistung durch gesetzliche oder private Kostenträger. Der Arzt sollte aber u. a. im eigenen Interesse vor der Leistungserbringung klären, ob bei seinem Patienten eine Erstattung möglich ist. Denn dies hat Einfluss auf den notwendigen wirtschaftlichen Aufklärungsumfang. 

GKV: Zugehörigkeit der Leistung zum GKV-Katalog notwendige Bedingung

Die gesetzlichen Krankenkassen sind nur dann zur Leistung verpflichtet, wenn die Therapie oder Behandlungsmethode rechtlich von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) erfasst ist (Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 02.09.2014, Az. B 1 KR 11/13 R, Randnr. 13). Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden dürfen zulasten der Krankenkassen nur erbracht werden, wenn der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) in Richtlinien nach § 92 Abs. 1 S. 2 Nr. 5 SGB V eine positive Empfehlung über den diagnostischen und therapeutischen Nutzen der Methode abgegeben hat und der Bewertungsausschuss sie zudem zum Gegenstand des EBM gemacht hat (BSG, Urteil vom 07.05.2013, Az. B 1 KR 44/12 R). Wählen GKV-Patienten aufwendigere Leistungen als die notwendigen, haben sie die Mehrkosten selbst zu tragen. Es ist in diesem Zusammenhang Pflicht des Arztes, den Patienten über etwaige Behandlungsalternativen aus dem GKV-Leistungsspektrum aufzuklären und über die Höhe der Mehrkosten zu informieren, andernfalls wird er seine Honoraransprüche gegenüber dem Patienten nicht durchsetzen können. 

Aber auch wenn die geplante Behandlungsmethode bereits in den Leistungskatalog aufgenommen ist, ist für jeden Patienten zu ermitteln, ob die betreffende Behandlung im Einzelfall medizinisch notwendig ist. Notwendig ist die Leistung laut BSG, wenn sie bzgl. der bestehenden behandlungsbedürftige Krankheit zwangsläufig, unentbehrlich oder unvermeidlich erforderlich ist. I. S. d. Sozialgesetzbuchs (SGB) V, sind Leistungen nur dann notwendig, wenn bei ihnen das günstigste Verhältnis zwischen Aufwand und Wirkung besteht. Dabei müssen Art, Dauer und Nachhaltigkeit des Heilerfolgs einbezogen werden. 

Beispiele aus der Rechtsprechung zur medizinischen Notwendigkeit von GKV-Leistungen

LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 13.12.2021, Az. L 4 KR 310/19: Die gesetzliche Krankenkasse muss die Anschaffungskosten eines OkuStim-Systems und Oku Elektroden erstatten und die im Zusammenhang mit der OkuStim-Therapie stehenden Behandlungskosten übernehmen, da diese nach Ansicht des Gerichts als medizinisch notwendig angesehen wird. Vorliegend ging es um eine degenerative Netzhaut-Erkrankung (Retinopathia pigmentosa). Die OkuStim-Therapie ist nicht als abrechenbare Leistung im EBM enthalten. Einzelfallentscheidung nach § 2 Abs. 1a SGB V.

Sozialgericht (SG) Wiesbaden, Gerichtsbescheid vom 31.03.2021, Az. S 21 KR 180/17: Das Gericht hielt eine Magenverkleinerungsoperation bei einem BMI von deutlich über 40 auch dann für medizinisch notwendig, wenn die ernsthaften eigeninitiativen Bemühungen des Versicherten zur Gewichtsreduktion nicht den strengen Vorgaben zu einem sechs- bis zwölfmonatigen multimodalen und ärztlich geleiteten bzw. überwachten Therapiekonzepts entsprechen.

Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22.12.2020, Az. L 28 KR 409/20 B ER: Eine Lipidapherese ist nach Auffassung des Gerichts bei einer bestehenden Hypercholesterinämie nur bei therapierefraktären Verläufen notwendig.

LSG Hamburg, Urteil vom 17.12.2020, Az. L 1 KR 55/19: Das Gericht hielt eine Positronen-Emossions-Tomografie (PET) bei einem Prostatakarzinom für nicht notwendig.

Wichtig: Die o. g. Entscheidungen zeigen schon, dass Sie Patienten nicht nur dann wirtschaftlich aufklären sollten, wenn die gewünschte Behandlung nicht im GKV-Leistungskatalog enthalten ist, sondern bei Zweifeln an der Erstattungsfähigkeit im Einzelfall auch zumindest bei kostenintensiven Behandlungsmaßnahmen aus dem Leistungskatalog. Der Kassenpatient kann dann zum Wahlleistungspatienten werden, wenn vor der Behandlung ein entsprechender schriftlicher Behandlungsvertrag mit dem Hinweis auf mögliche GKV-Alternativen und die anfallenden Kosten geschlossen wurde.

PKV: Medizinische Notwendigkeit richtet sich nach VVG und MB/KK 

Auch bei privat versicherten (PKV-)Patienten setzt die Erstattungsfähigkeit von Behandlungskosten die medizinische Notwendigkeit einer Behandlung voraus (vgl. § 192 Abs. 1 Versicherungsvertragsgesetz [VVG], § 1 Abs. 2 S. 1 Musterbedingungen für die Krankheitskosten- und Krankenhaustagegeldversicherung [MB/KK]). Da hier aber nicht die Sozialgerichte, sondern die sog. ordentlichen Gerichte zuständig sind, weicht die Rechtsprechung etwas von der bei GKV-Patienten ab. 

So prüft der Bundesgerichtshof (BGH) die medizinische Notwendigkeit bei PKV-Patienten

Zunächst ist zu klären, ob die Maßnahme überhaupt geeignet ist, den angestrebten Behandlungserfolg zu erreichen. Je lebensbedrohlicher die Krankheit ist, desto geringer sind die Anforderungen an die Erfolgswahrscheinlichkeit. Eine Methode, mit der das Behandlungsziel nicht erreicht werden kann, ist überflüssig und sinnlos.

Liegt die Eignung vor, ist die Erforderlichkeit der Maßnahme zu untersuchen. In den meisten Fällen kann diese bejaht werden, wenn eine wissenschaftlich anerkannte Behandlungsmethode verfügbar und angewandt worden ist, die geeignet ist, die Krankheit zu heilen oder zu lindern.

Sind mehrere Behandlungsmaßnahmen denkbar oder geeignet, so ist nach dem Prinzip der Nachrangigkeit nur die Behandlungsalternative medizinisch notwendig, die unter Berücksichtigung der Risiken und Nebenwirkungen eine höhere Erfolgschance hat. 

Wichtig: Sind zwei Behandlungsmethoden trotz des Nachrangigkeitsprinzips ausnahmsweise gleich erfolgsversprechend, genießt die versicherte Person Wahlfreiheit. Die versicherte Person muss nicht die kostengünstigere Behandlungsmethode wählen.

Beispiele aus der Rechtsprechung zur medizinischen Notwendigkeit von Privatleistungen

Landgericht (LG) Köln, Urteil vom 04.11.2020, Az. 23 O 94/18: Nach Ansicht des Gerichts war der Einsatz eines Femtosekundenlasers bei einer Kataraktoperation medizinisch notwendig, weil er dem Patienten einen relevanten medizinischen Vorteil gegenüber der konventionellen Behandlung verschaffte.

OVG Münster, Beschluss vom 09.12.2021, Az. 1 A 2320/19: Die private Krankenkasse muss keine Kosten übernehmen für asphärische Intrakularlinsen zur Behandlung von grauem Star. Diese Behandlung ist nach Ansicht des Gerichts nicht medizinisch notwendig, da asphärische Intrakularlinsen im Gegensatz zu sphärischen Intrakularlinsen nur die Randbilder im Blickfeld verbessern und daher lediglich als nützlich einzustufen sind.

LG Magdeburg, Urteil vom 14.04.2020, Az. 11 O 1461/19: Nach Ansicht des Gerichts ist eine Linsenbehandlung (trifokale Intraokularlinse) medizinisch notwendig, wenn sie wegen Kurzsichtigkeit/Hornhautverkrümmung/Alterssichtigkeit durchgeführt wurde und ist daher von der privaten Krankenversicherung zu übernehmen.

Oberlandesgericht (OLG) Braunschweig, Urteil vom 16.09.2020, Az. 11 U 122/18: Bei der Liposuktion beim Lipödem befindet man sich im PKV-Erstattungsbereich zz. noch in der Rubrik „vor Gericht und auf hoher See“: Das Gericht hat angenommen, dass eine Liposuktion medizinisch notwendig sei, weil es keine Studie gibt, welche der konservativen vor der operativen Methode den Vorzug gibt. 

OlG Köln, Urteil vom 23.11.2012, Az. 20 U 96/10: Das Gericht hält die gleiche Behandlung nur für medizinisch notwendig, wenn eine längerfristige kontinuierliche Behandlung mit manueller Lympdrainage und/oder Kompressionstherapie ohne Erfolg geblieben ist.

Wichtig: Für PKV-Patienten gilt dasselbe wie für GKV-Patienten (s. o.): Sie sichern sich ihre Honoraransprüche, indem Sie im Zweifel lieber einmal überobligatorisch statt einmal zu wenig wirtschaftlich aufklären. 

Medizinische Notwendigkeit aus haftungsrechtlicher Sicht

Im Rahmen des Haftungsrechts spricht das Gesetz nicht von medizinischer Notwendigkeit, sondern von fachlichen Standards. Eine Behandlung hat demnach den allgemein anerkannten zur Zeit der Behandlung bestehenden fachlichen Standards zu entsprechen (vgl. § 630a Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch [BGB]). Nach der Rechtsprechung des BGH gibt der Standard Auskunft darüber, welches Verhalten von einem gewissenhaften und aufmerksamen Arzt in der konkreten Behandlungssituation aus der berufsfachlichen Sicht eines Fachbereichs zum Zeitpunkt der Behandlung erwartet werden kann. Der Standard repräsentiert den jeweiligen Stand der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und der ärztlichen Erfahrungen, die zur Erreichung des ärztlichen Behandlungsziels erforderlich ist und sich in der Erprobung bewährt hat. 

 Soweit eine Methode nach diesen Maßstäben nicht Facharztstandard erreicht hat, müssen Sie den Patienten besonders umfassend über mögliche Behandlungsalternativen innerhalb des Standards aufklären. Entscheidet sich der Patient danach für die neue Behandlungsvariante, so besteht gem. § 630 a Abs. 2 BGB die Möglichkeit, einvernehmlich vom Facharztstandard abzuweichen. Eine umfassende Dokumentation ist hier aber besonders wichtig.

Praxistipp: Hat sich eine Methode als Facharztstandard etabliert, aber noch keinen Einzug in die Leistungskataloge der Kostenträger gefunden, müssen Sie als Behandler vom Facharztstandard abweichen, wenn der Patient nach umfassender Aufklärung die GKV-Leistung anstatt der von ihm selbst zu zahlenden medizinischen Wahlleistung wünscht. Auch hier sind unbedingt die konkrete Aufklärung und der Wunsch des Patienten zu dokumentieren. Ohne aussagekräftige Dokumentation laufen Sie sonst wegen der Beweislastverteilung in einem Gerichtsprozess Gefahr, für die vom Patienten gewollte Facharztunterschreitung zu haften.

von RAin, FAin MedizinR Dr. Christina Thissen, Kanzlei Voß.Partner, Münster,