Aufklärung und Einwilligung bei „Neulandmethoden“: BGH präzisiert Anforderungen

Bei sog. Neulandmethoden gelten bei der Aufklärung des Patienten erhöhte Anforderungen: Der Patient ist u. a. darüber zu informieren, dass der geplante Eingriff (noch) kein medizinischer Standard ist. Zudem muss dem Patienten vor dem Eingriff unmissverständlich verdeutlicht werden, dass die neue Methode die Möglichkeit unbekannter Risiken birgt.

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Das Urteil des Bundesgerichtshofs [BGH] vom 18.05.2021, Az. VI ZR 401/19, zeigt vor allem die erhöhten Anforderungen auf, die zu stellen sind, wenn sich die Behandlerseite (ungeachtet ob Standard- oder Neulandmethode) auf eine sog. mutmaßliche Einwilligung stützen will.

Der Sachverhalt

Einem Patienten war im Frühjahr 2011 eine vollständig aus Kunststoff gefertigte Bandscheiben-Endoprothese des Typs „Cadisk-L“ implantiert worden. Unstreitig war der Patient zuvor nicht darüber aufgeklärt worden, dass 

die üblicherweise am Markt erhältlichen Endoprothesen – anders als die hier verwendete – eine Titanummantelung aufwiesen,
es sich bei der Verwendung dieser Prothesen folglich nicht um den damaligen Behandlungsstandard, sondern um eine sog. Neulandmethode handelte, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht hinreichend erforscht war, und 
bei solchen Methoden die Möglichkeit unbekannter Risiken besteht. 

Als nach dreieinhalb Jahren Schmerzen auftraten, zeigte sich, dass sich Teile des Prothesenkerns gelöst hatten und in den Spinalkanal gewandert waren. Die Prothese wurde entfernt und zunächst durch einen Cage ersetzt. Weitere Operationen folgten. Der Patient klagte und verlangte Schadensersatz (u. a.) mit der Begründung, dass er nicht hinreichend und sorgfältig über die Methode und die Risiken aufgeklärt worden sei, sodass der Eingriff ohne wirksame Einwilligung und damit rechtswidrig erfolgt sei. Während die Vorinstanzen die Klage bzw. die Berufung noch abgewiesen hatten, verwies der BGH die Klage wieder an das Oberlandesgericht (OLG Oldenburg) zurück.

Merke: Das OLG Oldenburg hatte seinem Urteil zugrunde gelegt, dass die Kunststoffprothese seinerzeit noch nicht hinreichend erforscht gewesen und der Kläger nicht über die Anwendung einer Neulandmethode aufgeklärt worden war.  Wegen der unstreitig unzureichenden Aufklärung sah das OLG zwar die ausdrücklich ­erklärte Einwilligung als unwirksam an, ging aber von einer mutmaßlichen Einwilligung aus (s. u.). Hierzu genügten dem OLG Aussagen des Klägers zu Beginn des Verfahrens, nach denen das OLG davon ausging, dass der Kläger dem Behandler vertraut hatte und dem Eingriff auch zugestimmt hätte, wenn der Behandler ihm die Kunststoffprothese vorher „vorgestellt“ hätte (Urteil vom 11.09.2019, Az. 5 U 81/19).

Die Entscheidungsgründe

Der BGH befindet nicht nur mangels ordnungsgemäßer Aufklärung die ausdrückliche Einwilligung für unwirksam, sondern verneint auch eine mutmaßliche Einwilligung. 

Keine wirksame Einwilligung

Das Gericht stellt unter Verweis auf die geltende Rechtsprechung noch einmal deutlich dar, welche konkreten Anforderungen an eine ordnungsgemäße Aufklärung zu stellen sind, wenn eine Neulandmethode zur Anwendung kommen soll. Der Leitsatz a) des Urteils fasst diese Anforderungen sehr anschaulich zusammen: „„Bei der Anwendung einer (noch) nicht allgemein anerkannten medizinischen Behandlungsmethode sind zur Wahrung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten erhöhte Anforderungen an dessen Aufklärung zu stellen. Dem Patienten müssen nicht nur das Für und Wider dieser Methode erläutert werden, sondern er ist auch darüber aufzuklären, dass der geplante Eingriff nicht oder noch nicht medizinischer Standard ist. Eine Neulandmethode darf nur dann am Patienten angewandt werden, wenn diesem zuvor unmissverständlich verdeutlicht wurde, dass die neue Methode die Möglichkeit unbekannter Risiken birgt.“ Da vorliegend der Behandler eine nach diesen Maßstäben ordnungsgemäße Aufklärung nicht vorgenommen hatte, konnte die ausdrückliche Einwilligung den Eingriff nicht rechtfertigen. 

Mutmaßliche Einwilligung scheidet ebenfalls aus

Liegt aber keine (oder wie hier keine wirksame) ausdrückliche Einwilligung vor, haben Behandler grundsätzlich die Möglichkeit, sich darauf zu berufen, dass hypothetisch im Falle einer weiteren Beratung die Patienten letztlich ihre Einwilligung erteilt haben würden (sog. mutmaßliche Einwilligung). Die Anforderungen hieran sind aber bereits bei allgemein anerkannten Behandlungen und umso mehr bei Neulandmethoden entsprechend hoch, damit das Erfordernis der selbstbestimmten Einwilligung hierdurch nicht unterlaufen wird. 

Nachdem der BGH die soeben dargestellten Anforderungen an eine ordnungsgemäße Aufklärung zur Einholung einer ausdrücklichen Einwilligung stellt, fordert er folgerichtig auch für die Annahme einer mutmaßlichen Einwilligung, dass hierfür davon auszugehen sein muss, dass die Patienten der Behandlung auch dann zugestimmt hätten, wenn sie zuvor ordnungsgemäß, also in der oben beschriebenen Weise, umfassend und unmissverständlich aufgeklärt worden wären. 

Vorliegend hatte das Berufungsgericht sich auf Aussagen des Klägers gestützt, die dieser zwar im laufenden Verfahren getroffen hatte (s. o.). Dabei war der Kläger aber weiterhin in Unkenntnis einiger der Aspekte, über die er zuvor aufzuklären gewesen wäre. Nachdem er im späteren Verlauf von allen relevanten Umständen Kenntnis hatte, hatte der Kläger seine Aussagen revidiert. Der BGH ließ diese früheren Aussagen daher zu Recht nicht als Anhaltspunkte für die mutmaßliche Einwilligung gelten.

BGH: Anforderungen an die mutmaßliche Einwilligung (Randnummer 14 f.)

Berufen sich Behandler auf eine mutmaßliche Einwilligung, müssen die Patienten nach Auffassung des BGH nicht darlegen, dass sie der Behandlung bei ordnungsgemäßer Aufklärung nicht zugestimmt hätten. 
Es reicht aus, wenn die Patienten plausibel darlegen, dass sie durch die ordnungsgemäße Aufklärung in einen echten Entscheidungskonflikt geraten wären. In diesem Fall muss die Behandlerseite beweisen, dass am Ende die Entscheidung zugunsten der durchgeführten Behandlung getroffen worden wäre. 
An die Darlegungspflicht der Patienten bzgl. eines Entscheidungskonflikts dürfen – schon bei Behandlungen nach medizinischem Standard, erst recht aber bei Neulandmethoden – keine zu hohen Anforderungen gestellt werden. 

Folgen des Urteils für die Patientenaufklärung

Diese für das Vertrauen der Patienten sehr wichtige und richtige Entscheidung des BGH verdeutlicht einmal mehr, wie elementar bedeutsam es ist, 

den Patienten zunächst umfassend, sorgfältig und vor allem verständlich aufzuklären,
hiernach die ausdrückliche (am besten schriftliche) Einwilligung einzuholen und 
beides zu dokumentieren. 

Dies gilt umso mehr, wenn es um Neulandmethoden geht. Es sollte so von vornherein vermieden werden, überhaupt in die Verlegenheit zu geraten, sich auf die mutmaßliche Einwilligung berufen zu müssen.

Fazit: Solange Patienten ansprechbar und im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte sind, ist es immer im Interesse aller Beteiligten, wenn diejenige Behandlungsentscheidung getroffen wird, die die Patienten tatsächlich und ausdrücklich möchten – und nicht diejenige, von der man ihnen unterstellt, dass sie sie vermutlich träfen, wenn man sie denn ordnungsgemäß aufklären würde. Völlig zu Recht – und in Unkenntnis der Entscheidung des OLG Oldenburg wäre man versucht, zu sagen: Selbstverständlich – stellt der BGH zudem auch beim Instrument der mutmaßlichen Einwilligung in der hypothetischen Betrachtung nicht darauf ab, ob die Patienten die Einwilligung erteilt hätten, wenn sie öfter, länger, anders, verständlicher oder umfassender aufgeklärt worden wären, sondern ob sie sie erteilt hätten, wenn sie ordnungsgemäß (s. o.) aufgeklärt worden wären.

RAin Vera Keisers, Kanzlei am Ärztehaus, Dortmund/Münster