KI könnte bald Augenarzt-Termine mitbestimmen

Drei der häufigsten chronischen Augenerkrankungen erfordern regelmäßige Kontrolluntersuchungen und Anti-VEGF-Injektionen. Eine Studie der Universität Bern und des Inselspitals, Universitätsspital Bern in Zusammenarbeit mit einem Startup für Anwendungen künstlicher Intelligenz (KI) in der Augenheilkunde zeigt nun, dass sich die ideale individuelle Untersuchungshäufigkeit von Patienten recht genau mit KI-Modellen vorhersagen lässt – mit dreifachem Nutzen.

©Artificial Intelligence in Medical Imaging Lab, ARTORG Center, University of Bern
©Artificial Intelligence in Medical Imaging Lab, ARTORG Center, University of Bern

Mit der Überalterung der Gesellschaft nehmen Altersbedingte Makuladegeneration (AMD), retinaler Venenverschluss (RVO)  und  diabetische Retinopathie (DR)  weltweit so stark zu, so dass es für spezialisierte Augenkliniken schwierig ist, mit der wachsenden Nachfrage nach regelmäßigen Kontrolluntersuchungen Schritt zu halten. „Es ist eine organisatorische Herausforderung, allen Patientinnen und Patienten gerecht zu werden und in der kurzen Zeit alle relevanten Bildgebungsdaten zu erfassen, um den individuellen Krankheitsverlauf zu beurteilen und Behandlungsentscheide zu treffen“, erklärt Sebastian Wolf, Leiter der Augenklinik des Inselspitals, die derzeit jährlich knapp 6.000 Behandlungen bei Patienten mit AMD, RVO und DR vornimmt.

Um das Fortschreiten der chronischen Augenerkrankungen zu überwachen, wird in der Regel die optische Kohärenztomographie (OCT) eingesetzt. In Zusammenarbeit mit dem ARTORG Center for Biomedical Engineering Research der Universität Bern hat das Inselspital KI-basierte, automatisierte OCT-Analysesysteme entwickelt, die Augenärzte bei der Beurteilung eines ganzen Patienten-OCT-Satzes in wenigen Sekunden unterstützen können. Zusammen mit RetinAI, einem Startup, das sich auf KI-basierte Technologien für die Augenheilkunde spezialisiert hat, haben sie nun eine retrospektive Studie durchgeführt, um zu beurteilen, wie gut die KI den Anti-VEGF-Behandlungsbedarf von Anfang an vorhersagen kann.

Der Studienaufbau

Die Studie untersuchte OCT-Daten von 340 Patientinnen und Patienten mit AMD und 285 mit RVO oder DME, die zwischen 2014 und 2018 am Inselspital mit Anti-VEGF behandelt wurden. Basierend auf morphologischen Merkmalen, die automatisch aus den OCT-Volumina zu Beginn und nach zwei aufeinanderfolgenden Besuchen extrahiert wurden, sowie demografischen Informationen zu den Patienten, wurden zwei KI-Modelle, die auf maschinellen Lernverfahren beruhen, trainiert, um die Wahrscheinlichkeit des langfristigen Behandlungsbedarfs neuer Patienten vorherzusagen (eines für AMD und eines für RVO und DME).

Anhand der ersten drei Besuche konnte sowohl für die AMD- als auch für die RVO & DME-Gruppe mit ähnlich hoher Genauigkeit vorhergesagt werden, ob Patienten einen niedrigen oder hohen Behandlungsbedarf haben. Vor allem aber zeigte die Studie, dass es möglich ist, beim ersten Besuch und sogar vor der ersten Injektion eine relativ gute Vorhersage darüber zu treffen, wie häufig ein Patient eine Injektion benötigen wird.

Studienaufbau, Links: Illustration des Treat-and-Extend-Verfahrens, das in der täglichen klinischen Praxis zur Behandlung chronischer Erkrankungen wie AMD, DME und RVO-bedingtem Makulaödem eingesetzt wird. Bei jedem Besuch wird (1) ein OCT-Scan der Netzhaut zur Diagnose und Überwachung erstellt, (2) die Sehschärfe des Patienten getestet, (3) der Patient erhält eine Injektion des Anti-VEGF und (4) der Arzt entscheidet anhand der beobachteten Ergebnisse beim aktuellen Besuch, ob das Zeitintervall zwischen zwei Besuchen verlängert wird oder nicht. Rechts: Illustration des Algorithmus zur Vorhersage des Behandlungsbedarfs anhand von Daten aus einem frühen Stadium der Behandlung. © Mathias Gallardo, Artificial Intelligence in Medical Imaging Lab, ARTORG Center

Drei Vorteile

«Wir haben gezeigt, dass Machine-Learning-Klassifikatoren den Behandlungsbedarf vorhersagen können, wenn bei einem Patienten erstmals eine chronische Augenerkrankung diagnostiziert wird», ordnet Mathias Gallardo, Postdoktorand am ARTORG AI in Medical Imaging (AIMI) Lab und Mitglied des neuen Center for Artificial Intelligence in Medicine (CAIM) die Studienergebnisse ein.

«Diese Ergebnisse zeigen, dass künstliche Intelligenz in naher Zukunft dabei helfen könnte, patientenspezifische Behandlungspläne für die häufigsten chronischen Augenerkrankungen zu erstellen», ergänzt Raphael Sznitman, Leiter des AIMI und Direktor des neuen Center for Artificial Intelligence in Medicine (CAIM).

Die Planung der idealen Behandlungsfrequenz für jeden Patienten hat mehrere Vorteile. Erstens können Patienten sicher sein, dass ihre Krankheit bestmöglich behandelt wird, ohne sich zu häufigen Besuchen und unangenehmen Injektionen ins Auge unterziehen zu müssen. Zweitens kann eine individualisierte Planung den Kliniken helfen, mit ständig wachsenden Patientenzahlen umzugehen und spezialisierte medizinische Kompetenzen und Infrastrukturen bestmöglich auszulasten. Drittens hilft eine objektivierte Bedarfsplanung, Überversorgung zu vermeiden, die Kosteneffizienz zu verbessern und die Gesamtausgaben zu verringern.

Klinik, Datenwissenschaften und Industrie bringen Technologie zum Patienten

Diese Studie illustriert die bewährte Zusammenarbeit zwischen Klinikerinnen des Inselspitals und Datenwissenschaftlern des ARTORG Center, die direkt aus klinischen Bedürfnissen heraus alltagstaugliche Technologielösungen entwickelt. Ein weiterer wichtiger Baustein zur klinischen Umsetzung einer solchen Technologie war hier das Startup RetinAI. «Wir freuen uns sehr, dass wir die EU-Förderung, die wir erhalten haben, für den Aufbau von patientenorientierten Lösungen in der Augenheilkunde einsetzen können. Damit stellen wir sicher, dass die Technologie in Produkte umgewandelt werden kann, von denen die Patienten wirklich profitieren und die Behandlung im großen Maßstab verbessert werden kann», sagt Carlos Ciller, CEO von RetinAI. Mit seinem Hauptsitz in der sitem-insel, dem Schweizer Zentrum für Translationale Medizin, befindet sich das Startup auch räumlich an der Schnittstelle zwischen Klinik und Wissenschaft. Dieses einzigartige Umfeld für klinisch getriebene KI-Technologien wird durch das neue Center for Artifical Intelligence in Medicine (CAIM) weiter ausgebaut. RetinAI wurde im Jahr 2017 gegründet und hat seinen Hauptsitz in Bern. Erst kürzlich hat das Startup eine Zusammenarbeit mit Novartis angekündigt. 

Quelle: Inselspital, Universitätsspital Bern