„Die Zukunft liegt in einer individualisierten Therapie“ – Ein AMD-Update mit Prof. Peter Szurman

Die Rolle des Komplementsystems, die ersten Wirkstoffe gegen geografische Atrophie, Brolucizumab und längere Behandlungsintervalle – Prof. Dr. Peter Szurman, Chefarzt der Augenklinik Sulzbach, über neue Entwicklungen bei Diagnose und Therapie der AMD.

Prof. Dr. Peter Szurman. Bild: Augenklinik Sulzbach am Knappschaftsklinikum Saar
Prof. Dr. Peter Szurman. Bild: Augenklinik Sulzbach am Knappschaftsklinikum Saar

Seit 2010 ist Prof. Dr. Peter Szurman Chefarzt der Augenklinik Sulzbach am Knappschaftsklinikum Saar. Er verfügt über umfangreiche operative Erfahrungen im vorderen und hinteren Augenabschnitt und gilt als anerkannter Experte in der minimal-invasiven Augenchirurgie. Seine Leidenschaft gilt insbesondere der Netzhaut- und Stammzelltherapie sowie der Transplantationschirurgie. Auf diesen Gebieten wurde er mehrfach ausgezeichnet. Für seine Arbeiten zur Behandlung der Makuladegeneration erhielt er 2007 den großen Forschungspreis der Deutschen Ophthalmochirurgen.
Die Therapie von Makulaerkrankungen ist ein bedeutender Schwerpunkt der Augenklinik Sulzbach. Sie unterhält eine eigene Forschergruppe mit Reinraumlabor zur Weiterentwicklung der AMD-Behandlung und arbeitet eng mit dem Fraunhofer-Institut für Biomedizinische Technik IBMT zusammen.

Inwiefern hat die multimodale Bildgebung das Verständnis für die pathophysiologischen Abläufe bei der Entstehung und Entwicklung der AMD verbessert?

Prof. Dr. Peter Szurman: AMD ist nicht gleich AMD. Wir wissen inzwischen sehr viel über die verschiedenen Subtypen, die zu differenzieren wichtig sind. Die multimodale Bildgebung erlaubt uns diagnostisch aus verschiedenen Blickwinkeln auf die AMD zu schauen und sie besser zu charakterisieren. So erhalten wir Zusatzinformationen, die uns eine genauere Beurteilung des Subtyps und der Pathophysiologie erlauben, was dann auch prognostisch relevant ist. 
Ein gutes Beispiel ist die Differenzierung von Drusen. Mit der multimodalen Bildgebung können wir retikuläre Pseudodrusen von normalen Drusen unterscheiden. Das ist wichtig, denn retikuläre Pseudodrusen haben ein höheres Risiko für die Ausbildung einer geographischen Atrophie (GA), für eine CNV-Entwicklung und eine Outer retinal Atrophy.
Ein anderes Beispiel ist die Differenzierung der PEA, also einer Pigmentepithelabhebung. Die FLA bei PEA bleibt häufig unklar, vor allem was die Größe und die Grenzen der PEA betrifft. Umgekehrt ist die alleinige OCT oft unklar, weil nicht sicher differenziert werden kann zwischen seröser und vaskularisierter PEA. Hier hilft das Notching-Phänomen im Randbereich der PEA in der Fluoreszenzangiographie sehr. Und mit einer zusätzlichen OCT-Angiographie lässt sich dann häufig eine Bestätigung für eine neovaskuläre Läsion einholen.

Welche Rolle spielt das Komplementsystems in der Ätiologie der AMD?

Die Bedeutung eines dysregulierten Komplementsystems bei der Progression der AMD ist inzwischen unbestritten. Ein dysreguliertes Komplementsystem ist jedoch nicht alleiniger Auslöser der GA, aber aggressiv verlaufende Phänotypen sind mit Komplement-Polymorphismen assoziiert. Die AMD wird hierdurch in einen inflammatorischen Phänotyp umgewandelt, der den neurodegenerativen Prozess und insbesondere das GA-Wachstum beschleunigt. Die Bedeutung des Komplementsystems zeigt sich auch bei anderen Risikofaktoren für die trockene AMD, z.B. aktiviert Rauchen das Komplementsystem. Dies zeigt die zentrale Bedeutung der entzündlichen Komplementkaskade für die trockene AMD und der geographischen Atrophie als Spätform.
In diese Kaskade greifen die neuartigen Komplementfaktor-Hemmer ein, die die Aktivierung von Entzündungsmediatoren und die Bildung von Membranangriffskomplexen (MAC) verringern sollen. Dieser Wirkungsmechanismus könnte möglicherweise die Degeneration von retinalen Pigmentepithelzellen (RPE) und Photorezeptoren deutlich verlangsamen, was die potenzielle therapeutische Grundlage bei der trockenen AMD darstellt.

Am Komplementsystem setzen die beiden Wirkstoffe Pegcetacoplan und Avacincaptad an, zu denen gerade Studie laufen. Sie sollen als erste Therapien für geografische Atrophie zum Einsatz kommen.  Was ist hier der aktuelle Stand?

Pegcetacoplan von Apellis steht in den USA möglicherweise kurz vor der Zulassung. Die FDA hat sogar einem beschleunigen Verfahren zugestimmt, was dafürspricht, dass die Datenlage in Bezug auf die Wirksamkeit als aussichtsreich gewertet wird. Es handelt sich um einen C3-Inhibitor. Nach den bisher publizierten Daten ist zwar nicht von einer revolutionären Wirkung auszugehen, das Medikament erscheint aber insbesondere spannend für Patienten mit fovealer Aussparung. Diese Patienten profitieren 2-3 mal so viel wie andere Subgruppen.
Avacincaptad (Zimura) ist dagegen ein C5-Inhibitor, wirkt also weiter unten in der Komplementkaskade. Hierzu sind weniger Daten bekannt. Die Phase III Studie wurde vor wenigen Wochen erfolgreich abgeschlossen, aber die Daten noch nicht bei der FDA eingereicht, so dass noch keine abschließende Bewertung vorliegt. Nach den vorläufigen Daten könnte Avacincaptad etwas besser wirksam sein als Pegcetacoplan, wenngleich die Einschlusskriterien der jeweiligen Studien nicht vergleichbar waren. Für Avacincaptad ist in Zukunft ein Port Delivery System für eine langfristige kontrollierte Freisetzung geplant. Dies ist gerade für Medikamente gegen die trockene AMD wichtig. Denn wir können unseren Patienten keine Verbesserung, sondern nur eine Verlangsamung der Progression in Aussicht stellen. Deshalb müssen wir von einer geringeren Therapieadhärenz der Patienten auszugehen als bei der anti-VEGF Therapie, die den Therapieerfolg für den Patienten spürbarer macht und sie für häufige IVOMs besser motiviert. 
Für uns Kliniker ist wichtig zu wissen, dass beide Medikamente eine CNV-Entwicklung befördern können. Diese spricht immerhin auf eine anti-VEGF-Therapie an. Umgekehrt ist es interessant, dass eine MNV-Typ 1 (unter dem RPE) protektiv für ein Wachstum der GA ist. Daran sieht man gut, dass alles mit allem verknüpft ist.

Wie sieht es mit Gentherapien bei AMD aus?

Anders als bei erblichen Netzhauterkrankungen ist die Gentherapie der AMD schwieriger. Denn die AMD ist keine monogenetische Erkrankung. Es ist wichtig zu verstehen, dass bestimmte, rasch fortschreitende Phänotypen der GA zwar mit einem Komplement-Polymorphismus, aber nicht mit einer eindeutigen genetischen Deviation assoziiert sind. Das erschwert auch einen zielgerichteten Ansatz für eine Gentherapie. Für bestimmte Subtypen der AMD gibt es jedoch mehrere gentherapeutische Ansätze: 
Zur Behandlung der GA bei trockener AMD wird derzeit in der Gyroscope Studie die subretinale Gentherapie mit dem Komplementfaktor I (CFI) Gen untersucht. Dabei werden nur solche Patienten eingeschlossen, bei denen eine seltene Deviation des CFI Gens vorliegt. Tatsächlich führt die subretinale Injektion des Vektors bei der Mehrheit der Patienten zu einem nachhaltigen Anstieg des Levels von CFI im Glaskörper sowie zu einem Rückgang der nachgeschalteten Komplementproteine, die mit einer Überaktivierung des Komplementsystems in Verbindung gebracht werden. Allerdings hat die Gyroscope Studie auch gezeigt, dass die erwartete Häufigkeit der CFI-Deviation von 2-3% aller GA-Patienten wohl zu optimistisch geschätzt war. 
Auch zur Behandlung der neovaskulären AMD gibt es gentherapeutische Ansätze: Derzeit befinden sich zwei Gentherapeutika in der klinischen Erprobung. Diese werden mittels modifizierter AAV-Vektoren - also Adeno-assoziierten Viren - injiziert und kodieren für Proteine, die etablierten anti-VEGF Antikörpern sehr ähnlich sind. ADVM-022 (Adverum Biotechnologies) produziert Aflibercept nach einer intravitrealen Injektion, und RGX-314 (Regenxbio) produziert Ranibizumab nach subretinaler oder suprachoroidaler Verabreichung.
Dieser Ansatz zielt also auf die Etablierung einer intrazellulären Biofabrik, damit retinale Zellen ihren anti-neovaskulären Wirkstoff selbst produzieren und somit eine dauerhafte VEGF-Inhibition erreichen. Beide Gentherapeutika konnten erfolgreich US FDA Phase 1 durchlaufen und befinden sich in den USA derzeit in aktiv rekrutierenden klinischen Phase 2 Studien.

Brolucizumab ist in Deutschland seit März 2020 zugelassen. Was bedeutet das für die Therapie der neovaskulären AMD?

Brolucizumab ist ein aussichtsreiches Medikament vorwiegend für die Behandlung therapierefraktärer Patienten. In unserem Makulazentrum gibt es tatsächlich einige Low-Responder, die nach einem Switch auf Brolucizumab sehr gut eingestellt sind, so dass die Makula nach langer Zeit wieder vollständig trocken ist. Es erlaubt auch ein längeres Dosierungsintervall. Männer haben dabei einen Vorteil um den Faktor 2-3 gegenüber Frauen. Der limitierende Faktor sind seltene schwere Nebenwirkungen wie intraokulare Entzündungen und Gefäßverschlüsse, die vielfach beschrieben sind und die auch wir in unserem Makulazentrum sehen. Ursächlich für die thromboembolischen Ereignisse ist eine immunologisch-getriggerte Thrombozytenaggregation. Deshalb wirken Thrombozytenaggregationshemmer vermutlich protektiv, wobei die Evidenz noch dürftig ist.
Bezüglich des Risikos muss man differenzieren. Das Risiko betrifft vorwiegend Frauen, und vorwiegend solche, bei denen Brolucizumab in kurzen Abständen gegeben wurde. Deshalb sollte auch das Behandlungsintervall länger gewählt werden. 
Der ideale Patient ist männlich, nimmt bereits einen Gerinnungshemmer, und wurden längere Zeit mit einem anderen Medikament vorbehandelt, das nicht mehr ausreichend wirkt und persistierende intraretinale Flüssigkeit aufweist. Hier ist eine Umstellung auf eine sparsame Brolucizumab Therapie mit 2-3 monatigen Behandlungsintervallen möglich und kann für Non-Responder segensreich sein.
Generell ist das Konzept eines verlängerten Dosierungsintervalls die Zukunft, denn die Therapieadhärenz steigt, wenn die Patienten zwischen den Behandlungen auch längere Ruhephasen haben. 
Hier ist Faricimab (Roche) ein weiterer aussichtsreicher Kandidat. Es handelt sich um einen biphasischen Antikörper, der über VEGF und Angiopoietin-2 (Ang-2) auf zwei verschiedene Signalwege abzielt. Die Phase III Studie zeigte, dass Faricimab bei gutem Sicherheitsprofil die Behandlungslast für Patienten mit neovaskulärer AMD bei gleicher Wirksamkeit signifikant reduzieren kann: Etwa 70% aller Studienpatienten kam mit einem 12 oder 16-wöchigen Rhythmus aus, nur ca. 30% benötigten einen 8-wöchigen Rhythmus. 
Es ist also erstmals möglich das Behandlungsintervall bei einem Großteil der Patienten auf bis vier Monate auszudehnen, bei gleicher Wirksamkeit und Sicherheit im Vergleich zu bisherigen Standardtherapien mit deutlich höherer Behandlungslast. Das hat das Potential sich langfristig durchzusetzen. In den USA wurde Farizimab bereits über 150.000-mal injiziert, ohne dass Sicherheitsbedenken in der Real Life Anwendung aufkamen. Die europäische Zulassung der EMA wurde soeben erteilt.

Die Augenklinik Sulzbach beteiligt sich auch an der PDS Velodrome Studie zum Port Delivery System mit Ranibizumab. Wie sind Ihre Erfahrungen mit diesem System?

Die neovaskuläre AMD ist eine chronische Erkrankung, die langfristig eine intensive Behandlung mit hoher Injektionsfrequenz erforderlich macht. Dies führt zu einer hohen Behandlungslast für Patienten und Angehörige. Patientenkarrieren mit 50, 70 und sogar 100 Injektionen sind heute keine Seltenheit, und der Wunsch nach länger wirksamen Alternativen entsprechend groß.
Hier setzt das Port-Delivery-System (PDS) an, ein permanentes, nachfüllbares Augenimplantat, das über die Pars plana eingebracht wird und kontinuierlich Ranibizumab in das Auge abgibt. Es wird in festen 24 oder 36-wöchigen Abständen mit Ranibizumab 100 mg/ml nachgefüllt.
In der Phase IIIa Studie führte das PDS-Implantat zu 5-mal weniger Ranibizumab-Behandlungen und hatte zudem ein günstiges Nutzen-Risiko-Profil. Das Konzept zur Reduktion der Behandlungslast durch verlängerte Behandlungsintervalle scheint aufzugehen: Die Patientenzufriedenheit mit PDS war in der Studie mit 90% sehr hoch.
In Deutschland wurde der Start der Phase IIIb Studie aus regulatorischen Gründen verschoben. Aber die vorbereitende Studien-Rekrutierung läuft bereits. Wir haben in unserer Sulzbacher Studienkohorte bereits ca. 30 Patienten, die auf einen Studienbeginn warten. Für den Einschluss müssen die Patienten behandlungsnaiv sein oder die erste IVOM innerhalb der letzten 9 Monate erhalten haben.

Was bedeutet das für die Zukunft?

Diese Beispiele zeigen sehr gut, dass die Zukunft der AMD-Behandlung in einer individualisierten Therapie liegt, die für Dutzende von Subgruppen jeweils spezifische Therapieansätze bereithält. Diese Verlagerung - weg von einem Medikament, hin zur zielgerichteten, individualisierten Therapie - ist für unsere Patienten eine gute Nachricht, wird für uns Augenärzte jedoch mehr Aufwand bedeuten. Dieser ist es jedoch Wert, weil die Behandlungslast für unsere Patienten geringer und der therapeutische Nutzen zielgerichteter sein wird.

Fragen: Achim Drucks